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: WLADIMIR KAMINER über Wahnsinnsdiskussionen

EIN MITTAGESSEN AN DER JÜDISCHEN VOLKSHOCHSCHULE

Vor zehn kann ich nur Vokale aussprechen, die Konsonanten kommen erst nach dem Frühstück ins Spiel. Deswegen verhandeln meine Familienangehörigen mit mir bevorzugt vor dem Frühstück, weil ich in diesem Zustand viel häufiger „Ja“ als „Nein“ sage.

Am Montag um zehn klingelte das Telefon. „Hier ist die Leiterin der Jüdischen Volkshochschule Berlin, sind Sie Herr Kaminer?“

„Ja“, sagte ich.

„Wir haben über Sie in der Zeitung gelesen, Sie schreiben lustige Geschichten!“

„Ja“, sagte ich.

„Wir wollen Sie zu einer Lesung bei uns einladen, sind Sie überhaupt Jude?“

„Ja“, sagte ich.

„Sind Sie Mitglied der Jüdischen Gemeinde?“

„Äh, nein“, sagte ich, „aber von meinem Freund die Oma ist Mitglied.“

So haben wir uns kennen gelernt. Die Frau lud mich zum Essen und weiteren Kennenlernen in das Restaurant der Berliner Jüdischen Gemeinde ein, das einen guten Ruf hat.

Zum Essen erschien das gesamte Trio, das in der Volkshochschule für das kulturelle Angebot verantwortlich ist. Ein Mann aus Schweinfurth, eine englische Frau, die vor dreißig Jahren London verließ und nach Berlin zog, und eine weitere Frau – aus Sankt Petersburg, das war die, die mich am Telefon gefragt hatte, wer ich eigentlich bin.

Die Anwesenheit einer Engländerin am Tisch löst fast zwangsläufig Diskussionen über den „Wahnsinn“ aus. Besser früher als später, dachte ich und fragte noch während der Suppe: „Was meinen Sie, wie es passieren konnte, dass die Kühe verrückt wurden?“

„Ach, wissen Sie, junger Mann, in England ist die Grenze zwischen dem Verrückt- und dem Normalsein sowieso sehr verschwommen ... vielleicht waren diese Viecher von Anfang an nicht ganz dicht, es hat bloß keiner gemerkt. Durch das besondere Klima sieht in England alles viel gesünder aus, als es in Wirklichkeit ist. Die Menschen, die Gärten, die Wiesen und Tiere – alle sehen perfekt aus, weil sie immer ein wenig feucht sind. Die Engländer trauen deswegen oft ihren Augen nicht, viel mehr der Nase. Sie sind große Liebhaber der Düfte.

Wenn Sie sich in einem typischen englischen Laden umsehen, wie zum Beispiel in Kreuzberg in der Grimmstraße, würden Sie gleich feststellen, dass die Engländer total auf Gerüche abfahren: Dort werden Kugelschreiber verkauft, die nach Rosen riechen, Terminkalender mit Ingwer-Duft, und Teeextrakte, die man als Lufterfrischer benutzen kann.“

„Warum sind Sie aus London weggegangen?“, fragte ich.

„Ich konnte mich mit der dortigen Heizungspolitik nicht anfreunden“, bekam ich zur Antwort, „die Engländer heizen nicht. Auch wenn es kalt ist. Wozu hat man denn Pullover?, sagen sie dann. Meine Eltern haben ein Haus auf dem Land gekauft. Es war im Preis runtergesetzt, weil es eine Zentralheizung hatte – so was gilt dort als äußerst ungesund . Das ist schon ein einzigartiges Land. Deswegen und wegen dem besonderen englischen Humor fühlen sich meine Landsleute oft in anderen Ländern missverstanden.

Der liberale Rabbiner zum Beispiel, der in Berlin gerade fristlos entlassen worden war. Er hatte eine typisch englische Art zu predigen – mit viel Humor, der nicht jedem in der Gemeinde zugänglich war.

Ein anderer Rabbiner – aus England – befand sich gerade zu diesem Zeitpunkt in Berlin. Er hatte sein Amt aufgegeben und war auf eine Weltreise gegangen. Eines Tages stand er vor der Tür unserer Gemeinde, er war blass im Gesicht und fragte mich fassungslos: ,What's happened? Ich sitze in meinem Zimmer im Kempinski, mache den Fernseher an, sehe diesen jungen Rabbiner, schaue in die Berliner Zeitungen – wieder der Rabbiner. Was ist mit dem Mann passiert? Ist er ermordet worden?‘ Aber nein, beruhigte ich ihn, er hat nur sein Amt gewechselt. Daraufhin sagte er: ‚Ich wurde in meinem Leben mindestens zwanzigmal versetzt, aber kein Fernsehsender hat je einen Ton darüber verlauten lassen, von den Zeitungen ganz zu schweigen.‘ Das ist bei uns anderes, erklärte ich ihm: Juden sind Nachrichten in Deutschland.“