Vertrauen ist gut, Kontrolle besser

1995 lehnte die Bahn den Verbesserungsvorschlag eines Mitarbeiters zur „Geschwindigkeitsüberwachung an Langsamfahrstellen“ dankend ab

von KLAUS HILLENBRAND

Eine Sicherheitslücke gefährdet den Zugbetrieb der Deutschen Bahn AG an vielen Baustellen. Im Gegensatz zum normalen Zugbetrieb besteht dort häufig keine Möglichkeit, einen zu schnell fahrenden Zug von außen abzubremsen – der Lokführer kann machen, was er will. Auch das Eisenbahnunglück von Brühl, bei dem am 6. Februar dieses Jahres wegen überhöhter Geschwindigkeit des Zuges neun Menschen getötet und über 50 verletzt wurden, ist auch eine Folge dieser fehlenden Möglichkeit zur Überwachung des Lokführers. Es hätte nicht passieren müssen.

Schon 1995 hat ein Bahn-Mitarbeiter detaillierte Vorschläge unterbreitet, die eine unerlaubte Beschleunigung des Zuges in einer Baustelle – Ursache der Brühler Katastrophe – technisch vermeidbar gemacht hätte. Doch der Verbesserungsvorschlag zur „Geschwindigkeitsüberwachung an Langsamfahrstellen“ wurde abgelehnt, der Bahn-Mitarbeiter erhielt stattdessen –als Trostpreis –eine Anerkennung von 100 Mark.

Das Verhängnis des Nachtexpress D 203 hatte an einer Weiche in Kalscheuren kurz hinter Köln begonnen. Wegen Bauarbeiten musste der Zug in der Nacht vom 5. auf den 6. Februar auf das Gegengleis wechseln. Lokführer Sascha B. bremste seine Lok 101 092-5 ordnungsgemäß auf Tempo 40 ab. Statt nun diese Geschwindigkeit zu halten, beschleunigte er aber den Zug bis auf 122 Kilometer in der Stunde. Doch nur zwei Kilometer weiter, in Brühl, musste der Express beim Wechsel auf ein anderes Gleis eine Weiche nach links befahren – und dafür war er nun viel zu schnell. Die Lokomotive und fünf Wagen kippten um und rasten die Böschung hinunter.

Ein Gutachten des Eisenbahn-Bundesamtes in Bonn kommt nach Angaben der in dem Unfall ermittelnden Staatsanwaltschaft Köln zu dem Ergebnis, dass die Entgleisung vermieden worden wäre, „wenn im Zusammenhang mit der Baumaßnahme eine technische Geschwindigkeitsüberwachung der Züge vorgesehen worden wäre“. Doch weil der Zug in Folge der Baustelle von Kalscheuren auf dem Gegengleis unterwegs war, fehlte in Fahrtrichtung Bonn die entsprechende Einrichtung zur Geschwindigkeitsüberwachung. Noch in Kalscheuren bei Einfahrt in das Gegengleis wäre der Zug zwangsweise abgebremst worden, hätte der Lokführer das Tempo nicht verringert. Dort existierte, wie auf Bahn-Baustellen immer, eine Geschwindigkeitsüberwachung. Doch danach, auf dem Gegengleis selbst, hatte er freie Fahrt.

Diese Problematik ist keinesfalls nur auf Brühl beschränkt. An vielen Baustellen der Bahn in Deutschland hört die Überwachung des Lokführers bis heute in dem Moment auf, wenn er auf das Gegengleis wechseln muss. Ursache dafür ist, dass entsprechende Gleismagnete nur an den Zügen funktionieren, die in der „richtigen“ Richtung unterwegs sind. Das Problem ist der Bahn durchaus bekannt: „Von den Bauleitungen an Baustellen, welche mit einer Geschwindigkeitsreduzierung verbunden sind, wird öfter Klage geführt, dass die vorgeschriebenen Geschwindigkeiten nicht eingehalten werden“, heißt es in dem Verbesserungsvorschlag eines Bahn-Mitarbeiters vom 2. Januar 1995, der an die damalige Bundesbahndirektion Saarbrücken gerichtet war und der taz vorliegt. Wäre die Bahn den damaligen Vorschlägen gefolgt, dann wäre in Brühl gar nichts passiert – außer einer Zugbremsung lange vor dem Unfall. Der im Sicherheitsbereich eingesetzte Bahnmitarbeiter wusste schon vor fünf Jahren um die Probleme: „So ist zum Beispiel ein Hochfahren der Geschwindigkeit nach einer gewissen vorgegebenen technischen Zeit durch den Triebfahrzeugführer jederzeit möglich, was auch bei längeren Baustellen öfters vorkommt“, schrieb der inzwischen pensionierte Mann.

Sein Vorschlag: An Baustellen sollten mobile „Geschwindigkeitsprüfeinrichtungen“ eingebaut werden. Bei zu hohem Tempo hätte ein Blinksignal den Lokführer sofort zum Bremsen veranlasst: „Durch das Aufleuchten bzw. das Blinken des Langsamfahr-Signalwiederholers erkennt der Triebfahrzeugführer sofort, dass er die zulässige Geschwindigkeit überschritten hat und er die Geschwindigkeit herabfahren muss.“ Bliebe er bei seinem zu hohen Tempo, würden Magnete der Indusi (siehe Kasten) den Zug zwangsweise von außen abbremsen. Alle Details zu Bauteilen, deren elektrischem Schaltplan und der Signalisierung nebst Skizzen zur baulichen Ausführung waren seinen Unterlagen beigefügt.

Experten schätzen, dass das ganze System pro Stück etwa 3.000 bis 5.000 Mark gekostet hätte – eine lächerliche Summe angesichts des materiellen Schadens allein des Unfalls von Brühl in Höhe von etwa 50 Millionen Mark. Abgelehnt wurde die Idee 1995, weil mit dem neuen Signal eine Änderung der „Signal- und Betriebsordnung“ verbunden worden wäre. Das ging den Bahn-Bürokraten offenbar zu weit.

Doch auch ohne das Signal – und damit ohne eine gesetzliche Änderung – könnte die Sicherheitslücke an Bahn-Baustellen geschlossen werden. Es müssten lediglich mobile Indusi-Geschwindigkeitsüberwachungssysteme eingebaut werden. „Das wäre jederzeit freiwillig durch die Deutsche Bahn AG möglich“, bestätigte ein Sprecher des Eisenbahn-Bundesamtes der taz. Die Bundesregierung könnte die Bahn durch eine Änderung der Eisenbahn-Bau- und -Betriebsordnung aber auch zu mehr Sicherheit zwingen.

Doch im Verkehrsministerium will man abwarten. Erst wenn „zweifelsfrei alle Fakten auf dem Tisch liegen“, so ein Sprecher, könne über sicherheitsrelevante Konsequenzen aus dem Brühler Unfall nachgedacht werden. Und auch die Bahn hält sich bedeckt: Solange die Unglücksursache nicht endgültig geklärt ist, möchte die zuständige DB-Netz Spekulationen „nicht kommentieren“, sagte ein Sprecher der taz.

Das aber kann dauern: Nach Angaben der Staatsanwaltschaft Köln ist der Beginn des Prozesses gegen den Lokführer von Brühl in den nächsten Monaten nicht zu erwarten. Und so lange gilt bei der Deutschen Bahn weiter ein erhöhtes Sicherheitsrisiko an vielen Baustellen – mindestens.