Cocktailbars, Szenewanderungen und andere Mythen

REIHERN IN MITTE

Mitte der 90er-Jahre wurde der Cocktail in Berlin mehrheitsfähig. In so genannten illegalen Clubs in Mitte wurden bis dato als überteuert geltende Drinks preiswert angeboten, und im frisch möblierten Prenzlauer Berg eröffneten reguläre Cocktailbars. Kurz vor 23 Uhr, zur Happy Hour, fielen Heerscharen von meist männlichen Studenten in diese Bars ein, um nach einem kurzen Uhrenvergleich eine Stunde lang einen um 50 Prozent preisreduzierten Cocktail nach dem nächsten zu ordern.

Das mit der Happy Hour verbundene Zeitmanagement und ein breites Wissen über die geheimen Öffnungszeiten der illegalen Clubs machten Prenzlauer Berg und Mitte zu Orten strategischen Ausgehens und über den Verweis auf die ganz besonders gut versteckten Locations in den Berlin-Sonderheften von Max und Geo zu touristischen Abenteuerspielplätzen. Im Gegenzug dazu begann man darum, die Berliner Wirklichkeit im östlich von Mitte gelegenen Bezirk Friedrichshain zu verorten. Nicht zuletzt weil dort Mitte der 90er-Jahre Mai Tai und Pina Colada völlig unbekannt waren, ganz im Gegensatz zum Molotowcocktail: Die letzten Hausbesetzer Berlins prügelten sich hier mit der Polizei und trafen sich anschließend beim Berliner Pilsener in hundefreundlichen Kneipen wie dem Supermolly.

Die in Friedrichshain ansässigen Ostberliner mittleren Alters beobachteten dieses Treiben besorgt und verschanzten sich in Eckkneipen wie dem legendären Steppenderbär oder zogen in den nächsten Jahren mit ihren Familien zum größten Teil nach Hellersdorf oder Marzahn.

Gleichzeitig erfuhr der ehemalige DDR-Arbeiterbezirk eine Aufwertung von prominenter Seite. Frank Castorf, ebenfalls ein Ostberliner mittleren Alters und Intendant der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, wies in einem denkwürdigen Interview darauf hin, dass er und seine Freunde mehr und mehr aus ihren angestammten Ausgehbezirken – Mitte und Prenzlauer Berg – ostwärts, unter anderem nach Friedrichshain, verdrängt würden.

Eine Utopie war geboren. Die Berliner Zeitung und andere Trendorgane überboten sich in den letzten Meldungen über die „Abwanderung der Szene aus Mitte in die östlicheren Bezirke“ und stilisierten Friedrichshain zum stillen Reservat authentischer Ausgehkultur hoch. Dass die vom Senat in Auftrag gegebene Studie „Sozialorientierte Stadtentwicklung“ 1998 nicht nur „Problemkieze“ in Neukölln und dem Wedding ausmachte, sondern auch am Boxhagener Platz in Friedrichshain, machte den Bezirk nur interessanter. Militaristischen Nightclubbern geriet er zum symbolischen Ort des Widerstands gegen die in der zweiten Hälfte der 90er-Jahre immer auffälligere Versnobbung in Mitte: „In Friedrichshain feiern, in Mitte reihern“, riefen Plakate zur Aktion.

Frank Castorf wurde entgegen seinen Befürchtungen nicht aus Mitte vertrieben, sondern durfte eines der eleganten Apartments in den renovierten Hackeschen Höfen beziehen. Die Utopie zerfiel: Castorf, gewissermaßen die Speerspitze der Berliner Osterweiterung, hatte sich in der neuen Mitte eingerichtet.

Aus dem vermeintlichen Szenereservat Friedrichshain ist derweil eine einzige große Kneipe geworden – vor allem im „Problemkiez“ rund um den Boxhagener Platz. Mehr als 150 gastronomische Betriebe sind in den letzten vier Jahren in Friedrichshain neu eröffnet worden, insgesamt sind es mehr als 550, und während des letzten Winters konnte man entlang der „Ausgehmeile“ Simon-Dach-Straße beinahe wöchentlich der Neueröffnung einer Cocktailbar beiwohnen.

Auch hier findet man Tagesangebote und Happy Hours, im einstigen „Arbeiterbezirk“ der DDR jedoch gibt man sich lieber bereitwillig dem Heavy Spending hin. Die Bars sind zu jeder Abend- und Nachtzeit gefüllt, bereitwillig werden zwischen 12 und 15 Mark für „Powercocktails“ (Getränkekarte) ausgegeben. Und wer sich mit anderen Insignien der gegenwärtigen Berliner Ausgehnormalität schmücken möchte, kann in der einen Bar Sushi zu seinem Drink bestellen, in einer anderen eine gemischte Tapasplatte.

Richtig ist, dass sich die Szene nach Friedrichshain verlagert hat, allerdings nicht aus Mitte, sondern aus dem Osten. Die Mehrzahl der jungen Barbesucher sind Lichtenberger oder Hellersdorfer. Sie haben ordentlich geschnittene Haare, tragen V-Ausschnitt-Pullover (Jungen) oder bauchfreie Tops (Mädchen) im modischen Hellblau, und unter fröhlichen „Caipi, Caipi“-Rufen erkämpfen sie sich im Frühling 2000 ihren Anteil an der cocktailisierten Ausgehgesellschaft. Darin erschöpft sich das revolutionäre Bewusstsein allerdings. Denn statt die Mischung aus verschiedenen Alkoholika und rohem beziehungsweise eingelegtem Fisch nach einem ausführlichen Pub-Crawl Frank Castorf oder anderen in der neuen Mitte vor die sorgsam restaurierten Haustüren zu kotzen, setzt man sich lieber wieder in die U 5 oder in den Golf und fährt zurück nach Lichtenberg. Oder Hellersdorf.

Gegenüber der Jungbevölkerung des Stadtrands sind die Neufriedrichshainer, die in den letzten fünf Jahren, vom Mythos der Authentizität angelockt, gen Osten gezogen sind, an den Resten des 90er-Jahre-Lifestyles zu erkennen. Kahl rasierte Köpfe, Techno-Brillen und Schultertattoos erzählen von der langen Party in Berlin-Mitte, damals. Die Party ist vorbei, doch die Szene-Invaliden sind nicht müde oder traurig wie zum Beispiel in Kreuzberg, sondern einfach nur erwachsen – ihr Recht auf einen Platz an der Theke der Cocktailbar müssen sie sich nicht mit demonstrativer Fröhlichkeit erkämpfen, sie haben ihn sich in langen, unterirdischen Nächten hart erarbeitet.

Ausgeschlafen zeigen sie sich dann am Sonntagmorgen beim Brunch in einer der 550 Bars und Kneipen gegenseitig ihre Kinder, vergleichen die Preise der beiden ersten Naturkostläden „im Kiez“ und demonstrieren insgesamt ein lockeres, aber zukunftsorientiertes Kleinfamilienleben. Irgendwann werden auch sie sich einen Golf kaufen: In den Friedrichshainer Cocktailbars und Frühstückskneipen, im Schatten der nahen Friedrichshainer Mietskasernen, formiert sich das Berliner Bürgertum des neuen Jahrhunderts. KOLJA MENSING