putin ist präsident
: DIE ÄRA JELZIN GEHT WEITER

Rein äußerlich betrachtet hat gestern in Russland tatsächlich eine neue Epoche begonnen. Denn so deutlich hatte der Kreml den Bruch mit der Vergangenheit, der Ära Boris Jelzin, seit Amtsübernahme von dessen Thronfolger Wladimir Putin bisher noch nicht inszeniert. Weder sizilianisch-barock, wie es die Parvenus im Kreml schätzen, noch bäuerlich-rustikal mit jener Überdosis Pathos, den Jelzin liebt – nein: Gediegen, nüchtern und sachlich verlief die Amtseinführung des neuen Präsidenten der Russischen Föderation.

Die Versuchung, von einer neuen Sachlichkeit zu sprechen, ist groß. Und wenn Form und Inhalt in Russland etwas miteinander zu tun hätten, gäbe es auch tatsächlich keine berechtigten Zweifel mehr daran, dass das strauchelnde Riesenreich nun geradewegs in Richtung Demokratie aufbrechen wird. Zumal sich Putin in ungewohnter Klarheit zu Offenheit und Transparenz bekannte – und nicht nur seine Pflichten, sondern auch die Verantwortung gegenüber den Wählern betonte.

Das sind in Russland seltene Töne. Dennoch: Zweifel sind angebracht. Wird der neue Kremlchef in der Lage sein, Stabilität und Erneuerung im Gleichgewicht zu halten? Und nicht – wie so oft in Russland – das Kind mit dem Bade ausschütten? Bisher spricht nicht viel dafür, dass Putin diese Erneuerung gelingen kann. Nicht nur das dunkle Kapitel des Tschetschenienkrieges, der ihm zu ungeahnter Popularität verhalf, belastet sein Image. Es sind die finsteren Kräfte, auf die er sich bei seinem Weg zur Macht stützte, die jetzt ihren Tribut fordern. Sie schränken Putins Handlungsfreiraum ein.

Nicht grundlos munkeln Eingeweihte, erst jetzt beginne die Ära Jelzin wirklich. Die Präsidialverwaltung, das inoffizielle kollektive Führungsorgan der Jelzin-Familie, scheint nicht nur in personeller Hinsicht intakt zu sein. Vielmehr sieht es so aus, als würde ihre Macht noch weiter ausgebaut. Die Finanzoligarchen können somit auch weiterhin ihr Unwesen trieben.

Überdies wird sich zeigen, ob die anderen Protegés des Kremlchefs – die Armee und der Geheimdienst, Putins primäre Sozialisationsinstanz – in Zukunft mit einer ausführenden Rolle zufrieden sein werden. Sollte es Putin gelingen, sich aus den Fangarmen dieses Kraken zu befreien, dann gebührt ihm tatsächlich der Ruhm, der ihm zu Hause schon jetzt zuteil wird. Aber wer glaubt schon an Wunder . . .

KLAUS-HELGE DONATH

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