Wenn selbst das Sandmännchen stramm ist

Wahre Lokale (19): In der Kantine der Frankfurter Großmarkthalle geben sich die Verdammten dieser Erde ein Stelldichein

Wenn in Frankfurt am Main die Lichter ausgehen und die unwahren Lokale schließen, wenn die mürben, kopfüber auf die Tische getürmten Wirtshausstühle, die viel erzählen könnten, wenn sie erzählen könnten, endlich alle Viere von sich strecken und in der erkaltenden Gerüchteküche niemand mehr von einer letzten Runde spricht, wenn selbst das Sandmännchen stramm ist und ganz Hessen endgültig ausgetrunken zu sein scheint, kann es passieren, dass von irgendwoher der Notruf „Großmarkthalle!“ ertönt.

In der Großmarkthalle gibt es auch morgens um fünf noch etwas zu trinken und auch sogar zu essen, jedenfalls für Menschen mit Därmen wie Drahtseile. Während draußen, wie von der Tarantel gestochen, die tollkühnen Gabelstaplerfahrer in ihren fliegenden Kisten herumrasen, geben sich drinnen die Verdammten dieser Erde ein Stelldichein: Lebenskünstler, Dauerarbeitslose, Bummelstudenten, Bohemiens und Lumpenproletarier, die nicht mehr viel zu verlieren haben. Ihre Risikobereitschaft ist so groß wie ihr Durst. Ich habe selbst einmal gesehen und gehört, wie ein prominenter Witzezeichner aus Frankfurt die steile Treppe, die in der Großmarkthalle zur Herrentoilette hinabführt, mit drei Purzelbäumen genommen und hinterher noch gelacht und gesungen hat, voll des süßen Äppelwois, auf dem Kreuz liegend, aber innerlich obenauf. Ein anderes Mal habe ich gesehen, wie ein Großmarkthallenbesucher ein Bierglas verspeiste, grässlich knirschend, stückweise, Biss für Biss, samt Stiel und Fuß, für fünf Mark. Vorher hatte ich angenommen, dass nur indische Yogis mit Spezialausbildung das könnten. Heute weiß ich, dass auch Harry Rowohlt dieses Kunststück beherrscht, aber ich hätte mir eigentlich denken können, dass es kein von Harry Rowohlt unbeherrschtes Kunststück gibt.

Nicht ganz einfach ist es manchmal, ins Schlafquartier zu gelangen, wenn man aus der Großmarkthalle kommt. Bei meinem letzten Versuch streifte das Taxi, in dem ich mehr lag als saß, eine Straßenbahn, und ich sollte als Unfallzeuge dableiben, obwohl ich die Kollision verschlafen hatte. Das beeidet:GERHARD HENSCHEL