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: Die Nachfolge des Festivaldirektors ist nicht nur in Berlin eine prekäre Frage

WAS KOMMT NACH GILLES JACOB?

Wenn es nach der französischen Presse ginge, könnte Cannes das ganze Jahr dauern. Selbst seriöse Filmzeitschriften erscheinen mit beigelegten T-Shirts und gefalteten Festivaltäschchen, alle haben Björk, Nagisa Oshima und Brian de Palma interviewt, und alle freuen sich wie verrückt auf George Clooney.

Auf der Klatschschiene sind eigentlich nur zwei der überall identisch kolportierten Nachrichten interessant: Eine Suite im Luxushotel Eden Rock am Cap d'Antibes kostet inzwischen 45.000 Francs pro Nacht. Und die amerikanischen Superstars, die dort absteigen, erhalten vom Festival (man lässt sich ja nicht lumpen) pro Tag einen Spesenumschlag mit 1.000 Francs.

Auf der seriösen Schiene geht's vor allem um eins: Was kommt nach Gilles Jacob? Die Nachfolge von Festivaldirektoren ist offenbar nicht nur in Berlin eine prekäre Frage – Diplomatie, Intrigen, Hegemonialstreben, Erbfolgekriege. Nur lässt sich ein Autokrat wie der Festivalchef von Cannes, den die französischen Gazetten gerne mit Ludwig XIV. vergleichen, nicht so einfach aus dem Amt putschen wie Moritz de Hadeln. Immerhin, mit dem Journalisten und ehemaligen Festival-Mitarbeiter Olivier Barrot gab es schon einen designierten Nachfolger. Aber der schmiss schon am Tage seiner Ernennung entnervt das Handtuch, angeblich weil sich Jacob, der sein Festival seit 22 Jahren in der Tat wie ein kleiner Sonnenkönig leitet, hemmungslos weiter in die Amtsgeschäfte einmischen wollte. Also dehnt Gilles XIV. seine Macht erst mal fleißig weiter aus. Ab Juni wird er auch die Verwaltungsfunktionen des ausscheidenden Präsidenten Pierre Viot übernehmen. Und es gibt sogar Gerüchte, dass Jacob seinen eigenen Sohn als Dauphin im Auge hat.

In der diesjährigen Filmauswahl fehlt es jedenfalls nicht an dynastischer Symbolik, Ludwig XIV. pompt und protzt schon in Roland Joffes Eröffnungsfilm „Vatel“. Gérard Depardieu spielt einen Meisterkoch, der den König im Auftrag seines Herrn beeindrucken soll. Ansonsten entziffert sich das Programm, in dem Jacob wieder einmal die ganze Garde des internationalen Autorenfilms versammelt hat, als gigantische Ansammlung von Degen, Reifröcken, Vatermördern und Perücken. Merkwürdigerweise driften gerade die jungen französischen Regisseure ins Historische ab, die bisher für den so genannten neuen Realismus im französischen Kino standen: Isabelle Huppert spielt in Patricia Mazuys „Saint-Cyr“ die Geliebte Ludwig XIV., Olivier Assayas erkundet in „Les destinées sentimentales“ die emotionalen Verwirrungen eines Porzellanfabrikanten der Jahrhundertwende, und Arnaud Desplechin begibt sich mit „Esther Kahn“ in Londons osteuropäisches Einwanderermilieu um 1900.

Hat das Kino so große Angst vor dem 21. Jahrhundert, dass es ständig vom 18. und 19. erzählen muss? Also: „Tabou“, Nagisa Oshimas schwules Samurai-Epos mit Beat Takeshi (um 1865), James Ivorys Henry-James-Verfilmung „The Golden Bowl“ (um 1900), Ang Lees Kung-Fu-Film „Tiger and Dragon“ mit Michelle Yeoh und Chow Yun-Fat (19. Jh.). Man freut sich geradezu, wenn sich die Coen-Brüder mit „O Brother, where art thou“ in die Dreißigerjahre vorwagen; Wong Kar-Wais „In the Mood for Love“ (Shanghai der 60er-Jahre) wirkt geradezu modernistisch. Nur John Waters erzählt mal wieder im ewigen Präsens des Pop: „Cecil B. Demented“, eine Entführungsgeschichte mit Melanie Griffith und Patty Hearst (ja, genau die). Lars von Triers Musical „Dancer in the dark“ mit Catherine Deneuve und Björk dürfte sowieso jenseits aller Zeitläufte spielen.

Andererseits passt der ganze Pomp, Tand und Puder auf der Leinwand durchaus zum realen Bezugssystem Cannes. Städtchen alter Damen und hinkender Hündchen, erzkonservative Oase des wohlhabenden Bürgertums, Ort der geschlechtslosen Apartmenthäuser mit ihren hängenden Geraniengärten. Auf zehn Einwohner eine Immobilienagentur. Wobei die an jeder Ecke aushängenden Wohnungsanzeigen mit Plüsch und Rüschen allesamt aussehen, als wollte ein Pascha aus dem 19. Jahrhundert ein Bordell eröffnen. Auch unser Apartment ist nicht ohne, mit seinem weiß-vergilbten Seventies-Touch. Im Wohnzimmer steht ein schreiend türkises Sessel-Ei, auf dem sich eigentlich nur Bond-Gespielinnen niederlassen können. KATJA NICODEMUS