Per Tischtelefon beginnt der Flirt zum Tango

Eine 81-jährige Neuköllnerin erzählt über ihr Leben als junge Frau in Berlin. Der Film „Spuren“ soll jetzt in Schulen gezeigt werden

Das Schönste an der 81-Jährigen ist ihr Lachen. Es ist ein selbstbewusstes und warmes Lachen, das nichts Hartes hat. Die Neuköllnerin hat „ein ganz normales Frauenleben dieses Jahrhunderts gelebt“. Als junges Mädchen sei sie wie „viele ein kleines Dummchen“ gewesen. „Erst später wurde ich immer kritischer und bekam mehr Selbstvertrauen. Auch durch die Berufstätigkeit“, erzählt sie, während sie durch die dicken Brillengläser blinzelt.

Gestern wurde im Rathaus Neukölln der Film über ihr Leben als Kind und junge Frau vorgestellt. „Spuren“ von Claudia von Gélieu, Sabine Seichter und Gika Witt behandelt die Jahre von 1919 bis 1945 und erzählt an Hand des Lebens der gelernten Kaufhausverkäuferin, Ehefrau und Mutter deutsche „Frauengeschichte“ aus Berlin, besser aus Neukölln.

Der Videofilm, initiiert von der Neuköllner Frauenbeauftragten Renate Bremmert, bekam bereits vorab großes Lob: Er wurde vom Landesschulamt für den Unterricht empfohlen und wird damit ab sofort zum obligatorischen Unterrichtsmaterial in neunten und zehnten Klassen.

„Das Ziel ist, die Kinder neugierig zu machen und sie anzuregen Fragen zu stellen, vielleicht auch ihren eigenen Großeltern“, sagte Oberschulrätin Gretel Wich-Trap. Der dreißigminütige Film ist wie eine Collage. Er arbeitet mit Fotos und Bildern aus der Zeit, dazwischen sind Interviewsequenzen mit der Erzählerin geschnitten. In dem Porträt werden verschiedene Aspekte des Lebens – immer aus Frauensicht – thematisiert.

Ursel Stolp kommt aus einer einfachen Familie. Die Mutter ist Schneiderin. Sie sitzt, so die prägende Erinnerung, in der Küche vor der Nähmaschine, stets mit gebeugtem Rücken. Nebenbei setzt die Mutter die Wäsche auf, kocht und versorgt die zwei Mädchen. Die jüngere Schwester von Ursel Stolp ist TBC-krank. „Die Mutter hatte nie Pause. Zudem war alles sehr beengt“, erinnert sie sich. Sie selbst hatte ihren Schlafplatz in der Küche, die kranke Schwester nächtigte auf einer Liege im Wohnzimmer. Die Etern hatten ein halbes abgetrenntes Zimmer für sich allein.

Die Welt, die Ursel Stolp in dem Film durch ihre Erzählungen wieder aufleben lässt, ist eine fast Vergessene. „Man erinnert sich kaum, wie das Leben damals für Frauen und Mädchen war. Aus heutiger Sicht würde ich mir das alles gar nicht bieten lassen, was meine Mutter hingenommen hat. Sie war sehr duldsam.“ Der Vater, von Beruf Drucker, war hingegen „auf sein Wohlergehen bedacht“.

Ursel Stolps Leben verlief anders als das der Mutter. „Ich konnte ein viel selbstbestimmteres Leben führen.“ Sie berichtet von ihren Besuchen im „Resi“ an der Hasenheide, wo es Tischtelefone gab und sie gerne Tango tanzte. „Aber immer wenn Männer mich auffordern wollten, die nicht mein Typ waren, bin ich schnell auf die Toilette verschwunden.“ Mit 19 Jahren heiratet sie ihren Mann. Der unterstützt seine Frau mit dem Wunsch nach Berufstätigkeit und sie arbeitet im Kaufhaus Joseph in der Karl-Marx-Straße, dem heutigen Hertie. „Wenn du zu Hause bleibst, bleibst du ein Mauerblümchen“, hatte der heute 89-Jährige zu ihr als junger Mann gesagt.

Der Film erhebt nicht den Anspruch, alle geschichtlichen Umbrüche dieser Zeit zu behandeln, vielmehr verlässt er sich auf die kleinen Alltagsszenen, die die Erzählerin aus ihrem Leben berichtet. Damit macht er Geschichte vorstellbar. „Über diese Zeit wird normalerweise ausschließlich negativ berichtet. Das schreckt junge Leute ab“, sagt die alte Dame. „Ich wollte auch die kleinen netten zwischenmenschlichen Dinge erzählen.“

Die Lehrer bekommen zusätzlich zum Film eine Vita der Erzählerin. Das Zusatzmaterial bedarf noch der Verbesserung. Fragen, ob der Mann aus dem Krieg zurückgekommen ist oder wie das Leben der Neuköllnerin nach 1945 verlief, werden nicht beantwortet. Möglicherweise wird, wenn eine Finanzierung zu Stande kommt, noch ein zweiter Teil von 1945 bis heute gedreht werden. „Aber wir wollen auch noch andere Zeitzeugen befragen“, sagte Bezirksbürgermeister Bodo Manegold (CDU). Ursel Stolp jedenfalls ist für einen zweiten Teil bereit. Der spielt dann in der Gartenstadt Neuköllns, in Rudow, im Grünen. ANNETTE ROLLMANN