Stolz auf jede Silbe

Etwa 20.000 Berliner sind Analphabeten. Hinter der Leseschwäche stecken meist komplexe Geschichten. Einige holen nun Verpasstes nach

von NINO KETSCHAGMADSE

Richard sitzt tief gebeugt über seiner Mappe. Mit dem Zeigefinger tastet er sich von Buchstabe zu Buchstabe. Seine Stirn liegt in Falten. „Auf-bau-en“ liest er stockend, „auf-ho-len“, heißt das nächste Wort. Aus „auf-tauch-en“ macht Richard erst einmal „auf-tau-en“. Er verliest sich immer wieder, bis die Lehrerin eingreift.

Richard ist 49 Jahre alt und lernt Lesen und Schreiben. Er ist einer von geschätzten 20.000 Analphabeten der Stadt. Seit fast zwei Jahren ist er beim Arbeitskreis Orientierungs- und Bildungshilfe (AOB). Richard und sein Mitschüler werden von zwei Personen betreut, von einer Kursleiterin und einer Psychologin. Zuerst müsse das Selbstbewusstsein und das Selbstwertgefühl bei den Teilnehmern gestärkt werden, meint AOB-Leiterin Ute Jaehn-Niesert. „Sie galten immer als die Doofen, sind irgendwie mitgerutscht und durchgekommen, konnten sich kaum eine Leistung anrechnen, haben grundsätzlich die Einstellung: Ich kann nicht lernen.“ Sie würden ihre Schreib- und sprachlichen Fehler auf alle Bereiche des Lebens übertragen.

Bei der nächsten Aufgabe sollen die Schüler „bitte den Baustein ge“ unterstreichen. Dass „ge“ für die Vergangenheit steht, wurde ihnen bereits erklärt. „Ich habe sechs gefunden und acht auf der anderen Seite“, zeigt Richard der Lehrerin die unterstrichenen Vorsilben. Diese sagt, es gebe nur neun insgesamt. Richard muss weitergrübeln.

Eine achtjährige Schulausbildung hat er hinter sich, die Hälfte davon verbrachte er in einer Sonderschule. Wie alle in seiner Gruppe. Als kleines Kind erlitt er bei einem Sturz vom Küchenschrank eine schwere Gehirnerschütterung. Die Ärzte sagten seien Eltern, der Unfall würde Auswirkungen auf seine geistigen Fähigkeiten haben. Er ist der Einzige von sieben Geschwistern, der nicht lesen und schreiben kann.

Mit 16, gleich nach der Schule fing Richard an zu arbeiten und auch zu trinken. „Meine Wenigkeit konnte gar nichts, paar Buchstaben konnte ich“, sagt der gebürtige Berliner. Früher hätte er niemandem etwas davon erzählt, nur den engsten Freunden. „Ich habe 20 Jahre lang gesoffen, und wenn ich besoffen gewesen bin, dann ist es scheißegal gewesen, ob ich das kann oder nicht.“

Vor 12 Jahren machte Richard einen Entzug. Doch damit, dass er nicht Schreiben und Lesen konnte, versuchte er sich weiter anzufreunden. „Manche Leute sind im Rollstuhl, manche Leute sind blind. Ich dachte, bei mir ist das, dass ich eben nicht lesen und schreiben kann“, erzählt er heute.

Seine Mitschülerein Gabi ist mollig und 43 Jahre alt. Es ist nicht schwer, sie zum Weinen zu bringen. Ihre großen runden Augen werden schon wässrig, wenn sie nur über ihr eigenes Leben nachdenkt. „Die Erinnerung, was war, mit der Schule, das wühlt immer wieder neu und neu.“

Für ihre fünf jüngeren Geschwister war Gabi wie eine zweite Mutter. Der Vater war Fernfahrer. Da er sich nicht um die Familie kümmern konnte, holte er die älteste Tocheter zwei Jahre früher aus der Schule. Nun konnte Gabi, wie sie selbst sagt, sich voll und ganz dem Haushalt widmen. Später arbeitete sie als Raum- und Altenpflegerin - bis sie ein chronisches Asthma „vor 20 Jahren arbeitsunfähig gemacht“ hat.

Zweimal hat Gabi geheiratet, vier Kinder bekommen. Zwei leben noch bei ihr. „Für meine Kinder war ich immer da“, sagt sie nicht ohne Stolz, „alle haben alle Hauptschulabschluss.“ Bloß zu ihr seien sie nicht ganz so nett gewesen: Besonders wenn es um Hilfe bei den Hausaufgaben ging. „Was ich durchgemacht habe, die Hölle!“ Am peinlichsten waren die Elternabende, wo Gabi nicht wusste, was sie unterschrieb.

Ihr fast blinder Mann sei keine Hilfe gewesen. Alle Behördengänge musste Gabi allein machen. Sie kenne sich da gut aus, meint sie: „Viele Gesetze sitzen in meinem Kopf, alles durch Mundpropaganda, immer durch Unterhalten.“ Die Kurse des AOB seien der Weg zur Besserung, meint Gabi. Sie müsse dann niemandem zur Last fallen und um Vorlesen betteln. „Ich bin stolz, wenn ich zum Briefkasten runtergehe und mache meine Post auf.“ Ihr Gesicht hellt auf. „Mein Freund sagt immer, jetzt muss ich die Geheimbriefe, die du nicht lesen sollst, verstecken, du fängst ja schon langsam an zu lesen.“

Ingrid, 43, eine Frau mit dem Coca-Cola-Shirt, lacht. Auch ihr Mann habe gesagt, er würde Briefe in seiner Hosentasche tragen. Ingrid kommt richtig in Redefluss. Ihre Kindheit im Heim, Streit mit der Mutter, die Heirat und der Umzug aus dem Elternhaus – sie erzählt, als ob alles erst gestern passiert wäre.

Seit zwei Jahren macht sie den Kurs beim AOB. „Es geht zwar langsam, aber es klappt. Ich kriege das Wort raus.“ Sogar die „großen Buchstaben in der BZ“, der Berliner Boulevardzeitung, bleiben für sie kein Geheimnis mehr.

Auch nicht für Hans-Jörg, dem 29-jährigen Bauhelfer. In der Sonderschule durfte er immer hinten sitzen und malen, während die anderen ihre Köpfe über den Büchern zermalmt haben. Beim Postlesen half und hilft immer noch die ältere Schwester. Erst ein Kumpel, gleichfalls Analphabet, habe ihn dazu bewegt, Lesen und Schreiben zu lernen.

Bei Richard gab es einen anderen Auslöser. Nachdem er 20 Jahre lang in einem Betrieb gearbeitet hatte, wollte er dort Vorarbeiter werden. Doch er hat eine Absage bekommen. „Wir kriegen zum Beispiel einen Lieferschein mit, wo steht, wohin die Sache geliefert werden muss und wer der Ansprechpartner ist. Ansonsten fachlich hab ich alles wunderbar drauf. Meine Lebenserfahrung, hab ich gedacht, ist gut. Das hat aber keine Rolle gespielt. Die haben gesagt, das geht nicht.“

Ein viel jüngerer Kollege, der keine Probleme mit Lesen und Schreiben hatte, ist schließlich Vorarbeiter geworden. „Ich hab mich damit abgefunden, und dann dachte ich mir, du bist ja sonst nicht doof, jetzt suchst du was und jetzt lernst du“, sagt Richard und versucht die nächste Silbe zu entziffern.