cannes, cannes
: Nichts liegt ferner als Godard, und doch thront er über allem

ZWISCHEN ZIVILISATORISCHEN DESASTERN

Wenn man sich Cannes so anschaut, dann liegt diesem Festival nichts ferner als Jean-Luc Godard. Und doch ist er dabei, er thront sogar über allem. Zum Beispiel schwebt er als Übervater über einem Colloquium, das zur Festivaleröffnung im Hotel Majestic stattfindet. Unter der Überschrift „Cinéma à venir“ unterhalten sich Leute wie Nadine Gordimer, Wim Wenders, Thomas Winterberg, Brian De Palma und Isabelle Huppert über die Zukunft des Kinos, über nouvelles technologies und le web. Das heißt, eigentlich reden vor allem die Franzosen, während der Rest schweigend vor sich hin starrt oder wie De Palma hin und wieder verstohlen einnickt. Vor allem der präpotente französische Regisseur Eric Zonca nervt, weil er ständig von den kleinen, leichten, bösen Kameras redet, die den Tod des Kinos (ein Lieblingstopos im französischen Filmdiskurs) bedeuten, weil jeder Trottel sie kaufen kann. Endlich kommt die junge iranische Regisseurin Samira Makhmalbaf einmal zu Wort und merkt schüchtern an, dass die neuen Techniken vielleicht auch zu einer Demokratisierung der künstlerischen Produktionsmittel führen könnten: „Dass sich jeder einen Stift kaufen kann bedeutet ja auch nicht den Tod der Literatur.“ Zonca heult auf: „Dann kann ja auch mein Nachbar Filme machen!“

In einem riesigen Interview in den aktuellen Cahiers du Cinéma hat ein bemerkenswert heiter aufgelegter Godard auf solche Fragen schon seine Antworten, Nicht-Antworten und Gegenfragen gegeben. „Mit den kleinen digitalen Kameras kann jeder Cineast werden? Na gut, Freunde, dann werdet es doch.“ Godard, der feststellt, dass die neuen Kameras auch nicht so viel anders funktionieren als die alten. Der zugibt, seinen eigenen DVD-Rekorder nicht bedienen zu können, weil die Fernbedienung zu kompliziert ist. Und der seine eigene Position im Kino der Gegenwart so kategorisch wie kokett beschreibt: „Ganz und gar außerhalb“. Ganz und gar draußen ist er natürlich nicht, allein schon, weil er gestern die 53. Filmfestspiele von Cannes mit einem Kurzfilm eröffnet hat, vor Roland Joffes Kostümschinken „Vatel“. „L'origine du XX. siècle“ ist tatsächlich ein Vor-Film. Mit einem Bus fährt man zu Anfang ein ins Unbewusste des 20. Jahrhunderts, in eine assoziative Annäherung an das, was dieses Centennium ausgemacht hat, und das sind in erster Linie Leichen, Soldaten, Schlachten. Zwischen utopischen Polaroid-Visionen von Glück, zwischen Kinderlächeln, ausgelassenen Badenixen und Gesten der Liebe entsteht die Vision eines totalen, umfassenden, hoffnungslosen zivilisatorischen Desasters. Das bewegende an diesen zwölf Minuten sind nicht die Bilder der schlafenden oder toten Soldaten. Wirklich bewegend ist die Trauer, mit der sein Stück Kino auf eine Epoche zurückblickt, die sich auf der Leinwand nicht mehr darstellen, nur hilflos vermitteln lässt.

Und dann „Vatel“, diese kostümierte Koproduktion von Eröffnungsfilm. Chantilly 1671, Tim Roth mit Pekinesenperücke, Uma Thurman als arrogante Geliebte des Sonnenkönigs und Depardieu als Wunderkoch. Vatel, der Küchenchef, der sich umbrachte, weil er einen bestimmten Fisch für ein bestimmtes Bankett nicht pünktlich geliefert bekommt – wenn so die Tragödien des 17. Jahrhunderts aussahen, dann muss man sie auch als Tragödien filmen und nicht als als gepuderten Ringelpietz. Dabei hat Depardieu sogar schon mal bei Godard gespielt. In „Hélas pour moi“, aber da war er noch Gott und hieß Depardieu. KATJA NICODEMUS