Abgenutzte Rituale wie im Gefängnisalltag

Beckett im Knast: Am Mittwochabend veranstaltete das Gefangenen-Ensemble „AufBruch“ im Rahmen des „Knastfestivals“ in der JVA Tegel eine öffentliche Probe des „Endspiels“. Das Stück richtet sich nicht nur an Inhaftierte, sondern auch an ein breites Publikum

Die Justizvollzugsanstalt Tegel ist das größte deutsche Gefängnis. Es gibt dort ein Krankenhaus, eine Bäckerei, eine Sattlerei, eine Tischlerei, Malerwerkstätten, Tätowierstudios. Dazu eine Kirche, ein Sportplatz, ein Fitnessstudio, einen funktionierenden Drogenkreislauf und ein geschlossenes System von Prostitution. Die JVA ist eine eigene Stadt mit festen Regeln: Aufschließen, Kontrolle, Zählung, Arbeit, Essen, Zählung, Arbeit, Zählung, Hofgang, Zählung, Nachtabschließen.

Der Gefängnisalltag ist von Ritualen bestimmt, die nicht nur lebenslänglich Einsitzenden schnell zu monoton-plumpem Unsinn verkommen. Das Gefangenen-Ensemble der JVA Tegel „AufBruch“ hat sich nicht zufällig für seine sechste Theater-Produktion Samuel Becketts „Endspiel“ vorgenommen. In dem Stück geht es um längst abgenutzte Rituale, die jedoch wie das Leben erhalten werden wollen. Wenn die 20 Darsteller in löchrigen Pyjamas, zerfetzten Morgenmänteln und Gummistiefeln „Es gibt kein Bier auf Hawaii“ singen, steht das nur für eine hohle Gewohnheit, die die Trostlosigkeit des Ausgesperrtseins vom Draußen karikiert.

Am Mittwoch fand im Gefängnis Tegel eine Probe statt, zu der auch Besucher von außerhalb der JVA kommen durften. Mit der öffentlichen Auführung wurde das „Knastfestival“ eröffnet. Im Rahmen des Festivals finden in Berliner Haftanstalten und in der Volksbühne bis zum 13. Mai internationale Gastspiele, Videovorträge und Diskussionen statt. Viele Termine sind nur für Gefangene. Mit dem offenen Programm will man das häufig als rein sozialarbeiterisch abgestempelte Projekt „Theater hinter Gittern“ einem breiten Publikum bekannt machen.

Bevor das „Endspiel“ in Tegel losgeht, liest ein Gefangener, mit karierter Bettwäsche kostümiert, die Grüße des Schirmherrs, Kulturstaatsminister Michael Naumann, vor. Das sieht lustig aus und das Publikum, das angewiesen worden war „Waffen, Nachrichten und Drogen“ zu Hause zu lassen, lacht gleich los.

Die Szenerie vom „Endspiel“ ist eine verkommenes Hotel oder Sanatorium. Paarweise spielen die Gefangenen die Figuren Hamm und Clov. Männer, die, vergessen nach einer Katastrophe, übrig geblieben sind. Eine Außenwelt ist noch da, aber unerreichbar. Wenn das Dasein schon keinen Sinn hat, so hat das Hiersein wenigstens einen Grund. Der ist nicht erfahrbar, aber manifestiert sich in stumpfen Ritualen wie Kartoffelschälen oder trägem Papierschiffchenbauen. Clov und Hamm sind wie Chef und Untergebener ängstlich aufeinander angewiesen, tauschen wie ein genervtes Ehepaar immer gleiche Sätzchen aus, und müssen sich doch wie Kumpels trauen. Die Schauspieler sind ungeschminkt. Sie berlinern und haben Tätowierungen.

Betroffenen-Theatergruppen werden von der Kritik meist gutgemeinte Unprofessionalität und mangelhafte künstlerische Qualität bescheinigt. Weil Becketts Handlung sich hier so plakativ mit der realen Situation der JVA-Gefangenen deckt, wirken die Agierenden trotz Unterbrechungen von Regisseur Roland Brus bei den schnauzigen Dialogen allerdings tatächlich echt. Das alte Theater-Problem der Aufhebung von Bühne und Publikum scheint über Sequenzen überwunden. „Wir atmen doch, wir verändern uns! Wir verlieren unsere Haare, unsere Frische, unsere Ideale!“, motzt einer. Wenn die inhaftierten Hamms und Clovs ihre Erzeuger Nagg und Nell von einem flachen Wasserbecken zurück in ihre Plastiktonnen treiben, ist das krachig und brutal. Man bekommt Spritzer ab und erschrickt ein bisschen. Bei so viel Ungestüm ist der Atem für den Stillstand im Stück indes oft nicht lang genug. Der Regisseur mahnt: „Denkt an hundert Jahre Tegel. Endstation“. Als er kurz zuvor befohlen hatte: „Denkt an Frauen und großen Oberweiten“, gelang das Spiel rauschhafter Träume überzeugender.

Nach der Probe zünden sich alle Schauspieler trotz Rauchverbot Zigaretten an. Stefano hat sich die rosa Strümpfe ausgezogen, die er als Hamm anhatte. Er muss noch 10 Monate in Tegel absitzen. Als falscher Autobahnpolizist hatte er Raser angehalten und abkassiert. „Früher war die ganze Welt meine Bühne“, sagt er.

Ein anderer Häftling verteilt guten selbstgebackenen Kuchen. Die Wachleute klimpern penetrant mit ihren Schlüsselbünden. Morgen wird der schwedische Regisseur Jan Jönson in der Volksbühne von Ausbruchversuchen seiner inhaftierten Schauspieler berichten und von der Dramatik, die Beckett-Stücke vor Inhaftierten entfalten. KIRSTEN KÜPPERS

„Endspiel“, JVA Tegel ab 31. Mai. Anmeldung bis 22. Mai beim Hebbel-Theater (Tel. 25 90 04 27), Volksbühne (Tel. 2 47 67 72)