HEUTE ENTSCHEIDET SICH, OB JOHANNES RAU ÜBERFLÜSSIG IST
: Präsidiale Prüfung

Es gibt keine großen Bundespräsidenten, höchstens wichtige. Nicht Pracht zu entfalten ist die Aufgabe des obersten Republikaners, sondern die Gesellschaft voranzubringen. Deshalb ist heute der Tag, an dem sich Johannes Raus Bedeutung für diese Republik entscheidet. Kurz vor Ende seines ersten Jahres als deutsches Staatsoberhaupt hält er seine „Berliner Rede“. Rau braucht dringend einen Erfolg, denn bisher hat er wenig vorzuweisen. Mit seiner heutigen Rede muss er die Antwort auf eine grundsätzliche Frage geben: Wozu braucht das Land einen politisch liberalen Präsidenten, wenn doch schon die Regierung liberal ist?

Seit den Zeiten von Walter Scheel in den 70er-Jahren hat es die Konstellation nicht mehr gegeben. Insofern befindet Rau sich in einer schwierigeren Lage als seine Amtsvorgänger Richard von Weizsäcker und Roman Herzog. Die beiden CDU-Politiker waren Präsidenten neben, aber nie unter Helmut Kohl. Der Dicke auf dem Kanzlersessel mag ihnen weniger Freiraum gelassen haben, als sie es sich manchmal wünschten. Dafür bot er als Verkörperung geistiger wie politischer Biederkeit den Präsidenten die Chance zum profilierten Auftritt. Beiden fiel die Profilierung leicht: Sie mussten nur liberaler sein als der schwarze Riese im Kanzleramt.

Johannes Rau musste in seinem ersten Amtsjahr die bittere Erfahrung machen: Auf welches Gebiet auch immer er vorstieß – die rot-grünen Reformer der neuen Bundesregierung waren schon da. Mehr als 60 Prozent seines Jobs mache die Außenpolitik aus, sagt Rau selbst. Doch die Bewunderung der Öffentlichkeit galt stets einem anderen – dem Außenpolitiker mit der Turnschuhvergangenheit. Auch als die Republik am Morast der Parteispenden-Affäre schier zu ersticken schien, fiel der Präsident als Saubermann aus – seine eigenen Verstrickungen als Landespolitiker in NRW verhinderten klare Worte. Selbst bei seinem Lieblingsthema, der multikulturellen Gesellschaft, ließ Rau sich anfangs von Rot-Grün überrunden. Die Reform des Staatsangehörigkeitsrechts nahm ihm den Wind aus den Segeln. Was sollte der Präsident noch fordern, wo die Regierung längst handelte?

Heute nun schlägt die Stunde des Johannes Rau. Sein Thema ist wieder die Integration von Ausländern in Deutschland. Doch die gesellschaftliche Situation hat sich geändert. Das kühne Vorhaben des Doppelpasses ist gescheitert, Kanzler Schröder will von einem Einwanderungsgesetz in dieser Legislaturperiode nichts wissen. Gute Voraussetzungen für Johannes Rau, die Gesellschaft voranzubringen. Gute Voraussetzungen auch, doch noch ein wichtiger Präsident zu werden. PATRIK SCHWARZ