Das Wahre ist das Ganze

Die Diplomatie hat „diplo“ abgeschüttelt, die Welt ist zur Chiffre der Globalisierung geworden

BERLIN taz ■ Seit fünf Jahren schmückt die taz am Zweiten jedes Monats die deutsche Ausgabe von Le Monde Diplomatique. Eine freundschaftliche und darüber hinaus beiden Seiten Gewinn bringende Liaison. Einige Autoren der taz haben im Schwesterorgan reüssiert, die Analysen von Le Monde diplomatique entgehen selten der Neugier der taz-Fachressorts. Seltsamerweise wird auf deutscher Seite aber kaum darüber nachgedacht, wie der Unterschied der politischen Sichtweisen und Organisationsstrukturen erst thematisiert, sodann fruchtbar gemacht werden könnte.

Das hängt natürlich mit dem Unterschied zwischen monatlichem und täglichem Erscheinungsmodus zusammen. Der neueste Konflikt in Sierra Leone samt Hintergrund und wahrscheinlich fatalen Auswirkungen ist bei uns bereits abgehakt, ehe die gewichtigen Beiträge über den Rhein heranrollen. Auch bewegt sich der „diplo“ nicht in dem schwierig zu meisternden Dreieck zwischen aktueller Nachrichtenvermittlung, situationsbezogener, möglichst dichter Schilderung und generalisierender Ausdeutung, also mit dem Geschäft des Tagesjournalismus. Wer „diplo“ aufschlägt, betritt das Reich des analysierenden Geistes.

Die eigentlich interessanten Unterschiede liegen jenseits der Zwänge, die das jeweilige Metier auferlegt. Sie sind in der politischen Sozialisation der Akteure ebenso verwurzelt wie in der Differenz der politischen Kulturen Frankreichs und Deutschlands. Während „diplo“ das „Diplomatique“ in seinem Namen inhaltlich längst abgeschüttelt hat, wurde ihr „Monde“ zur Chiffre der Globalisierung. „Diplo“ hätte keine Schwierigkeiten mit Hegels „Das Wahre ist das Ganze“.

Die Zeitschrift geht von einem durchs internationale Kapital gestifteten weltweiten Zusammenhang aus und unterzieht sich folgerichtig der Anstrengung, nach internationalen Gegenkräften Ausschau zu halten, die mit dem Prozess der Globalisierung auf Augenhöhe sind. In der deutschsprachigen April-Ausgabe 2000 fordert beispielsweise Jean Tardif in seinem Artikel „Bürger der Globalisierung“ dazu auf, das Internet zu nutzen, um mit Hilfe eines zu gründenden „Ständigen Forums für Interdependenzprobleme“ eine „weltweite Zivilgesellschaft“ zu fördern.

Einem ähnlichen Impuls verdankt sich die politische Initiative zur weltweiten Besteuerung grenzüberschreitender Kapitaltransfers. Die taz-Kollegen sind zwar weit davon entfernt, das Ganze für das Unwahre zu halten. Sie kritisieren die Politik von Weltbank und IWF gegenüber den Entwicklungsländern und unterstützen den Aufbau „internationaler Regime“ zum Beispiel im Umweltschutz. Aber der Glaube an die Möglichkeit weltweiten Zusammenwirkens zur Durchsetzung einer fortschrittlichen Politik ist vielen von ihnen, vor allem denen, die einmal in Solidaritäts-Initiativen tätig waren, ziemlich abhanden gekommen.

So wünschenswert die weltweite Durchsetzung der Tobin-Steuer wäre, ihre Realisierungschancen werden im Milieu der taz eher als niedrig eingeschätzt. Auch die Redakteure der taz wissen, dass unser aller Schicksal von der Ökonomie abhängt. Wie der „diplo“ setzt sie sich dafür ein, den Raum des „Politischen“ gegenüber den ökonomischen Prozessen zurückzugewinnen. Aber die Rolle des jeweiligen Nationalstaats wird dabei sicher unterschiedlich gesehen – Ergebnis der unterschiedlichen Geschichtsverläufe, besonders des katastrophischen deutschen.

Die Differenz in der Frage, was internationale, koordinierte politische Aktion bewirken kann, zeigt sich folgerichtig im Verständnis der politischen Funktion des jeweiligen Mediums. „Diplo“ versteht sich auch als kollektiver Organisator. Davon zeugen die Freundeskreise, die selbst in der tiefsten Provinz Fuß gefasst haben und das politische Hauptanliegen der Zeitung, eben den fortschrittlichen Bezugs „aufs Ganze“ unterstützen. Lange Zeit verstand sich die taz als Bewegungszeitung, Instrument einer Gegenöffentlichkeit. In den 90er-Jahren setzte sie unter dem Signum der Realpolitik auf die kritische Unterstützung des rot-grünen Projekts. Jetzt sieht sie sich als nonkonformistisches, kritisches Organ ohne Partei- oder Bewegungsbindung. Schließt eine solche Haltung jede künftige, lang anhaltende Unterstützung gesellschaftlicher Bewegungen aus? On verra. CHRISTIAN SEMLER