Pflastersteine zu Weißbier

Waren die Krawalle am 1. Mai ein Protest gegen Krieg und Kapitalismus oder doch nur Terror gegen unschuldige Telefonhäuschen? Der Anmelder der Revolutionären 1.-Mai-Demonstration, Gunnar Krüger, und der grüne Fraktionschef Wolfgang Wieland streiten über Riots, die Verantwortung der Politik und die Unmöglichkeit einer alternativen Kreuzberger Schnitzeljagd

Moderation BARBARA JUNGE und SABINE AM ORDE

taz: Herr Wieland, Sie haben nach der 1.-Mai-Demonstration gesagt, Krawalle hätte es ohnehin gegeben. An wessen Adresse war das gerichtet?

Wolfgang Wieland: Damit war die Stimmung unter den Demonstranten gemeint. Ich kann schwer damit leben, wenn sich Verantwortliche für solche Demonstrationen hinstellen und sagen: Wir wollten eigentlich unseren Protest friedfertig austragen, aber die Polizei hat uns überfallen, und unsere Leute haben sich nur gewehrt. Das ist unehrlich. Die Formel „Ohne Bullen kein Krawall“ ist etliche Male widerlegt worden. Auf dieser Demo wurden Steine bereits zu einem frühen Zeitpunkt aufgenommen. Nicht viele, aber es geschah. Es gab „lustige“ Lieder mit Texten wie „Ein Stein passt noch, ein Stein passt noch rein“. Jeder Beobachter wusste: Irgendwann kracht es. Jedes Jahr am 1. Mai wird um 18 Uhr in Berlin Revolution geprobt.

Herr Krüger, haben Sie es, wie Wolfgang Wieland sagt, auf Randale angelegt?

Gunnar Krüger: Ich habe die Demonstration angemeldet. Als sie den Oranienplatz erreicht hat, ist die Demonstration schneller geworden, damit noch möglichst viele Leute auf den Platz kommen können. In diesem Moment wurde die Demonstration von Polizisten angegriffen. Die DemonstrantInnen haben sich dagegen gewehrt. Ich habe daraufhin den Aufzug für beendet erklärt, weil ich für die Sicherheit der TeilnehmerInnen nicht mehr garantieren konnte.

Aber Sie haben eine Demonstration angemeldet, die traditionell in einer Straßenschlacht endet.

Krüger: Die Demo war angemeldet von Kreuzberg nach Mitte – auch aufgrund der gestiegenen bundespolitischen Bedeutung der Berliner Mitte. Die Polizei hat dann gesagt, die Demonstration dürfe nur in Kreuzberg stattfinden, die Gerichte haben das unterstützt. In diesem Jahr ist von Seiten der Polizei dafür gesorgt worden, dass die Leute sauer wurden, darüber muss sich keiner wundern. Daher sind die Krawalle auch intensiver gewesen als im letzten Jahr.

Herr Wieland, Sie sind Mitglied der Grünen. Und Sie werfen Autonomen und links orientierten Jugendlichen Gewalt vor? 1999 hatten wir eine historisch neue Qualität der Gewalt erreicht, als sich Deutschland das erste Mal seit 1945 wieder militärisch an einem Krieg beteiligt hat. Der Außenminister, der sicherlich politisch maßgeblich dafür verantwortlich war, ist Mitglied der Grünen, ist sozusagen auch de facto der Chef Ihrer Partei. Im Krieg gegen Jugoslawien sind 5.000 Menschen gestorben, unschuldige Leute.

Wieland: Wenn der Grund dafür, dass am 1. Mai Steine flogen, derKosovo-Einsatz war, warum flogen am 1. Mai 1997 und 1998 Steine, als die Grünen noch gar nicht in der Regierung waren? Was hat der Berliner Polizist, der sozusagen Objekt der Steine ist, mit der UÇK und dem Krieg im Kosovo zu tun?

Krüger: Es ist natürlich so, dass es auch in Berlin massive soziale Probleme gibt. Es ist verlogen, wenn der Senat oder gar die Bundesregierung behaupten, die öffentlichen Kassen seien leer, es gebe kein Geld für Schulen oder einen anständigen öffentlichen Nahverkehr.

Ich bin der Meinung, dass viele von den Jugendlichen, die auf der Revolutionären 1.-Mai-Demo gewesen sind, drei Wochen vorher auf der Bildungsklau-Demo waren. Diese Jugendlichen haben damit auch ein politisches Anliegen ausgedrückt, die sind sauer über die Sparmaßnahmen des Senats im Bildungsbereich.

Nun kann sich aber so ’ne Wut über aktuelle politische Probleme in unterschiedlicher Form einen Weg bahnen. Der Kosovo-Krieg kostete 1, 3 Milliarden Mark. Dafür ist Geld da. Für andere Dinge nicht. Es gibt eine große Unzufriedenheit, und die entlädt sich am 1. Mai in der uns allen bekannten Form.

Wieland: Und wollen Sie diese Form, oder wollen Sie sie nicht? Sie sind am 1. Mai kein Beobachter gewesen, sie waren der Veranstalter.

Krüger: Ich halte die Gewaltdebatte, wie sie mir hier reingedrückt wird, für falsch und verlogen. Es gibt im Umfeld des AKW Krümmel gehäuft Leukämie-Fälle. Die Schuld dafür trägt der Staat, der im Interesse der Atomwirtschaft handelt. Wer fragt denn Kinder, die von dieser Radioaktivität betroffen sind, nach der strukturellen Gewalt des Staates?

Aber warum dann nicht nach der Demonstration ein großes Fest mit politischen Inhalten?

Krüger: Der Krawall ist ganz klar von der Polizei provoziert worden, zum Beispiel durch das Beschlagnahmen des Lautsprecherwagens. Die Polizei hat versucht, mich festzunehmen, weil angeblich meine Fahnenstange zu lang war. Wenn so stark provoziert wird, braucht sich keiner zu wundern, was dann passiert.

Wieland: Ich habe auch kritisiert, dass der Lautsprecherwagen beschlagnahmt wurde, ebenso die Auflagen für diese Demonstration. Die Polizeiführung ist der Ansicht, dass sie ein Deeskalationskonzept, welches sie grundsätzlich im Zusammenhang mit dem 1. Mai anzuwenden bereit ist, auf diese Demonstration nicht anwenden kann, weil sie sagt: Da gibt es ein unglaubliches Randale- und Krawallpotenzial. Herr Krüger tut ja als Anmelder auch alles, damit dieser Eindruck entsteht. Und er tut alles, damit durch kryptische und halbdeutliche Äußerungen auch jeder weiß, es könnte zu erlebnisorientierten, actionhaften Sachen kommen. Spielen wir doch nicht künstlich die Dummen. Herr Krüger drückt sich vor der Frage, ob er gerne eine friedliche Demonstration hätte oder ob ihm der Ruf des 1. Mai gerade recht kommt, weil die Kämpfer dadurch erst richtig in Street-Fighting-Stimmung kommen.

Krüger: Solange dieses System in dieser Form besteht, werden solche Ereignisse wie zum Beispiel der 1. Mai in Kreuzberg weiterhin passieren. Das hängt auch mit den so genannten erlebnisorientierten Jugendlichen zusammen. Es stimmt, dass in Kreuzberg BVG-Wartehäuschen zerkloppt wurden. Ich denke, dass viele Leute mit Recht auf die BVG sauer sind. Die BVG wird immer teurer und immer schlechter . . .

Wieland: . . . und das mit den Telefonzellen, war das Protest gegen die Telekom-Gebühren? Und die Steinwürfe auf die Blindenanstalt? Auf die Bücherei?

Krüger: . . . es sind ansonsten so gut wie keine kleinen Läden kaputtgegangen. Steinwürfe auf die Blindenanstalt und auf eine Bücherei hat es gegeben. Doch die Betroffenen haben von sich aus die Einschätzung abgegeben, es habe sich aller Wahrscheinlichkeit nach um Irrläufer gehandelt. Die Kreuzberger Bevölkerung hat sich sehr solidarisch gezeigt.

Wieland: Viele Dinge, die hier ausgeführt wurden, vom AKW Krümmel bis zu den Fahrpreisen der BVG, sind Gründe, zu demonstrieren. Ich hab auch immer gesagt, der Revolutionäre 1. Mai ist nur teilweis eine Love-Parade mit negativem Vorzeichen, aber vom Inhalt her ist es eine politische Veranstaltung. Nur die Antwort auf die Frage, warum dazu eine Randale notwendig ist, ob das wirklich vernünftigerweise mit dem Begriff „revolutionär“ in Zusammenhang gebracht werden kann, die ist leider unbeantwortet. Wenn du je mit Polizisten diskutiert hättest, dann wüsstest du, dass die allermeisten nicht auf Randale aus sind, sondern Angst haben, dort überhaupt hinzugehen.

Krüger: Ja, Herr Wieland, jetzt versuchen Sie wieder . . .

Wieland: . . . jetzt bin ich wieder moralinsauer, oder was?

Krüger: . . . nein, Sie versuchen, den 1. Mai zu entpolitisieren.

Wieland: Nein, gerade nicht. Ich habe gesagt, es ist ein politisches Ereignis.

Krüger: Sie stellen die Erlebnisorientierung in den Vordergrund. Ich bin der Meinung, dieser Riot war politisch. Sonst wäre in Kreuzberg kein Schaufenster ganz geblieben.

Wieland: Also entschuldige, das war kein Riot. Ich bin ein älteres Semester, und ich habe den 1. Mai 1987 erlebt, das war ein Bezirksaufstand. Leute, die an diesem Tag was völlig anderes machen wollten, haben damals Läden geplündert und in ihrer Familie die Waren verteilt. Da ging es gegen die Feuerwehr, gegen U-Bahnhöfe und anderes mehr. Das war ein Riot. Was ihr wollt, sind Möchtegern-Riots und der Funke springt gerade nicht auf die Bevölkerung im Kiez über. Das mit der solidarischen Bevölkerung ist eine Idylle, wie ihr sie euch wünscht, eine Mär. Die, die 87 noch dabei waren, haben diesmal ein Hefeweizen getrunken und zugeguckt. Das war doch nur ein vergeblicher Versuch, den 1. Mai 87 noch mal hinzubekommen – nur die Bedingungen sind heute anders. Das macht den lächerlichen Charakter der Veranstaltung aus.

Der Anspruch „Wir schlagen gegen die imperialistischen Zentren los“, und dann wird’s doch wieder nur der Heinrichplatz, oder „Wir bekämpfen die Bestie des Imperialismus“, und dann sind es 23-jährige Bereitschaftspolizisten, die diese Rolle der Bestie spielen müssen – dieser Anspruch hat einen absolut lächerlichen Kern. Ärgerlich ist dabei, dass die vielen Verletzten auf beiden Seiten einkalkuliert werden, als wär’s ein Naturereignis.

Herr Krüger hat gesagt, es sei viel Wut auf der Straße, und deswegen griffen die Leute am 1. Mai zu Steinen. Zumindest erreichen die Grünen diese Leute offenbar nicht oder nicht mehr. Hat die Partei etwas verpasst?

Wieland: Also ich denke, dass das nun nicht die Frage an uns zu diesem Zeitpunkt ist. Die Demonstration richtet sich ja gegen uns. Deswegen geh ich auch nicht mit. Ich will’s mir nicht antun, gegen mich selber zu demonstrieren, und ich will’s auch den anderen Demonstranten nicht antun. Das ist eine klare Front, die ich auch akzeptiere. Wir haben dieses Fest auf dem Mariannenplatz in Kreuzberg als Angebot an die, die friedlich feiern wollen, veranstaltet. Aber wir wissen auch, es gibt eben Kids, denen ist das nicht genug. Und da können wir ja nun nicht ’ne alternative Schnitzeljagd durch den Kiez anbieten, das wäre kein Erlebnis-Event.

Die Polizei macht sicher riesige Fehler, das habe ich immer gesagt. Letztes Jahr war der Erste Mai aus polizeilicher Sicht eine Katastrophe. Aber Deeskalation setzt immer einen Partner voraus, jemanden, der als Demo-Veranstalter sagt: Ich will auch, dass die Demo friedlich über die Bühne geht.

Heißt das, polizeiliche Deeskalation macht also gar keinen Sinn?

Wieland: Das ist zu statisch. Die Polizei soll natürlich deeskalieren. Das ist ein bisschen wie im zwischenstaatlichen Bereich damals bei den Abrüstungsdebatten: Wer tut den ersten Schritt? Wer macht eventuell einseitige Vorleistungen? Wie es die Polizei übrigens mit ihrem etwas drolligen AHA-Konzept jenseits dieser Demonstration getan hat. Bei der Demonstration hat es vielleicht maximal tausend Militante gegeben, also 9.000 oder mehr, die nicht in die Straßenschlacht gehen wollten. Und polizeiliche Taktik muss sich vor allem auch an die wenden, sie muss differenzieren.

Herr Krüger, war der 1. Mai in Kreuzberg ein Erfolg?

Krüger: Wegen der Auflagen war es nicht die Demo, die wir eigentlich wollten. Aber dass wir überhaupt am Oranienplatz angekommen sind, war ein großer Erfolg. Es gab eine Polizeifalle am Maybachufer. Ich habe als Anmelder mit der PolizeiVerhandlungen geführt. Es ist mir und anderen Leuten aus der Verhandlungsdelegation gelungen, dass diese Demonstration da unbeschadet vorbeikam. Ich würde den 1. Mai in Kreuzberg insgesamt als einen politischen Erfolg für die revolutionäre Linke in Berlin bezeichnen. Übrigens, in Havanna ist der 1. Mai friedlich . . .

Herr Wieland, was erwarten Sie für den nächsten 1. Mai?

Wieland: Es käme darauf an, einen Dialogprozess in Gang zu setzen, auch mit den Veranstaltern dieser revolutionären 18-Uhr-Demo. Das ist unglaublich schwer. Bei der Nazi-Demo in Hellersdorf fühlten sich alle angesprochen, Kirchen, Gewerkschaften, Parteien haben Gegenaktivitäten gemacht. Aber der 1. Mai in Kreuzberg, die Randale, wird wie ein Naturereignis abgefeiert. Das muss sich ändern. Natürlich hat der Innensenator mit seinen Vorschlägen, das Demonstrationsrecht einzuschränken, zur stimmungsmäßigen Eskalation im Vorfeld beigetragen. Die polizeilichen Maßnahmen taten dann ein Übriges. Aber in Diskussionen mit der Polizei kann man durchaus etwas erreichen. Das Ergebnis könnte zum Beispiel sein, dass diese Demonstration mit einer sehr geringen Polizeibegleitung stattfindet.

Doch solange die Demo-Veranstalter der Polizei im Vorfeld signalisieren: Wir brauchen euch, wir wollen euch, wir wollen euch auch schrecklich sehen, damit unser Weltbild stimmt, damit wir die imperialistische Bestie sehen, damit es hinterher richtig abgeht – solange das die Signale sind, wird der 1. Mai in Kreuzberg so bleiben, wie er ist.