Bobos und Knallos

Während der Fußball-EM wird die deutsche Nationalelf im holländischen Grenzort Vaals logieren. Dort wächst der Missmut. Eine Ortserkundung

aus Vaals BERND MÜLLENDER

Unübersehbar prangt das Werbeplakat im Fenster des Vaalser Verkehrsvereins: „Matthäus-Passion“. Das wird doch nicht? Nein, natürlich wird hier auf einen Klassiker der Musik hingewiesen – der Bach-Verein nebenan im fünf Kilometer entfernten Aachen wirbt für sein Konzert.

Solch kulturelle Austauschwerbung ist im Grenzland seit langem Alltag. Gewöhnt haben sich die Einheimischen im 11.000-Einwohner-Städtchen Vaals auch daran, dass, vor allem wegen der preiswerteren Mieten, mittlerweile 30 Prozent der Mitbürger Deutsche sind. Im Juni aber zieht in den Ort ein Tross Moffen, der in den Niederlanden traditionell zutiefst unbeliebt ist: die deutsche Fußball-Nationalelf.

Die DFB-Mannen wohnen in Holland, weil sie in Holland wohnen müssen. Das sehen die Regularien der Uefa vor (Quartier im Gastgeberland). Die Nationalelf bezieht am Vaalser Ortsrand das noble Schloss Vaalsbroek (siehe auch taz-Sport vom 11. Dezember 1999). Jan Janssen, der Hoteldirektor, „freut sich diebisch“, bemerkte die örtliche Zeitung. „Deutschland war unsere erste Wahl, das gibt die höchste Publicity“, sagt der Geschäftsmann in ihm. Erich Ribbeck hat er als „nicht besonders anspruchsvoll“ kennen gelernt hat, was ein Lob sein soll. „Als guter Gastgeber“ will Janssen „hundert Prozent geben, damit Deutschland ins Finale kommt“. Höflich gemeint, aber eine ziemlich exklusive Hoffnung für einen Holländer.

Sturmlauf auf Vaalsbroek

Im Dezember hieß es noch, das Kasteel werde auch während der EM der Öffentlichkeit zugänglich sein. Dann aber begann es den Verantwortlichen zu dämmern, dass die Nachbarsgäste hier auf dem Präsentierteller wohnen, nur mühsam und mit großem Aufwand abschirmbar. Und dass alles auf Kosten der genervten Anwohner gehen wird. Als im Januar dann die offizielle Vertragsunterzeichnung im Hotel allein 60 deutsche Journalisten anlockte, waren die schreibenden Kollegen vor Ort beeindruckt und berichteten vom „deutschen Sturmlauf auf Vaalsbroek“. Wie wird das erst, wenn „bis zu 6.000 Fußballtouristen täglich“ kommen, mit denen Bürgermeisterin Monique Quint rechnet? „Unsere Stadt“, sagt sie, „wird wohl für einige Wochen zum Pilgerort.“

Schnell wurde beschlossen, dass der 18-Hektar-Hotelpark nur für die DFB-Elf zugänglich sein wird. Dass Hotel, Schloss und Restaurant nur noch „im Prinzip“ für Dritte geöffnet sein werden. Dass zusätzliche Sicherheitszäune angebracht werden. Dass es Ausweiskontrollen rund ums Hotel geben wird. Und dass die Straßen dort zeitweise ganz dicht gemacht werden.

Das finden viele natürlich gar nicht lustig. Wegen der verwinkelten Wegeführung im Vaalser Hügelland bedeutet das kilometerlange Umwege, Staus, Parkplatznot. Spaziergänge und Radtouren – nichts wird im viel beworbenen (und wunderschönen) Erholungsgebiet rund um das Kasteel mehr gehen. Die berühmte „Nacht von Gulpen“, eine 60-Kilometer-Nachtwanderung zur Mittsommerwende, musste abgesagt werden. Veranstalter und Wanderfreunde sind stinksauer.

Mäuse für den DFB

Besonders empört sind die Anwohner. Ein Ehepaar mittleren Alters, das nur ein paar Häuser neben Kasteel Vaalsbroek wohnt, mault. Sie: „Von mir aus können die Deutschen nach einem Spiel rausfliegen.“ Er: „Leider werden sie mindestens drei Spiele da sein.“ Sie: „Dieses ganze Theater, und dann kommen jeden Tag auch noch tausende deutsche Knallos.“ Er: „Das wird wohl Zoff geben hier und böses Blut.“ Sie: „Tja, Geschäft ist Geschäft.“ Als wir am fast fertig gestellten Neubautrakt des Hotels vorbeischlendern, sagt sie: „Sieh mal, hier werden auch die doppelt isolierten Spundwände eingezogen. Typisch niederländische Bauweise. Da nisten sich traditionell gerne Mäuse ein. Das wär doch was“, sagt sie zunehmend giftig.

Ähnliche Fantasien gibt es auch öffentlicher, etwa Ende März in der Heimatpresse Limburgs Dagblad: „Das Schlafzimmer von Lothar Matthäus liegt direkt an der Seitenstraße. Man darf sich gar nicht vorstellen, wie das wird, wenn lustige Oranje-Freunde dort nächtelang Hupkonzerte veranstalten.“ Von Lärmschutzwällen ist bislang nichts bekannt. Bürgermeisterin Monique Quint fordert: „Vaalsbroek darf auch nicht zur Festung werden.“

Dann lieber, sagt sich die Ortsverwaltung, eine Bannmeile für die Anwohner. An die Vaalser Bevölkerung geht eine Art Mahnschreiben ihrer Gemeinde. Es geht um gesperrte Spazierwege, Umleitungen und vor allem darum, dass die Einwohner ihre Kinder besser aus der Gegend um das Luxusquartier fern halten möchten, damit sie mit den Sicherheitskräften nicht in Konflikt kommen. „Eine Unverschämtheit“, sagt eine Mutter, „leben wir hier oder diese deutschen Fußballmillionäre?“

Besonders problematisch wird das Zusammenleben, wenn die deutsche Elf auf ihren eineinhalb Kilometer vom Hotel entfernten Trainingsplatz will. Dann gibt es zeitweilige Vollsperrung der Straßen. Derzeit wird die Sportanlage des kleinen SV Lemirsia ganz nach dem Geschmack der deutschen Gäste hergerichtet. Seit Anfang April regieren hier Bagger und riesige Lkws, die 120 Kubikmeter Sand verschüttet haben. „Wie in der Wüste“ kommt es dem Pächter des Vereinsheims, Rico Klein, vor. Alles wird umgebaut, die beiden Rasenplätze waren dem DFB nachgemessene fünf Meter zu kurz für erfolgreiches Üben, zu holprig sowieso, und die Ballfangnetze hinter den Toren zu niedrig.

Der Aschenplatz wird jetzt ganz zugeteert, für Parkplätze. Meterhohe Zäune werden gebaut als Sichtschutz gegen 1.000-Millimeter-Objektive. Und als Pferdeschutz: Direkt angrenzend ist nämlich das Gestüt von Olaf Becker. „Die haben uns versprochen, dass alles völlig abgeschirmt wird und dass der Bierhoff hier nicht die Pferde scheu machen kann.“ Er muss grinsen bei seinen Fantasien. „Aber“, sagt er ernst, „meinen Ausweis darf ich nie vergessen, sonst komme ich nicht mehr zurück in mein Haus.“ Öffentliches Training soll es nach DFB-Angaben nicht geben. Was die Fans umso mehr vor das Schlosshotel führen wird.

Aber: Ist es nicht schön für den Verein, wenn man die Plätze saniert bekommt? Nur auf den ersten Blick: Denn seit April ruht der Spielbetrieb, es gibt nur noch Auswärtsspiele. Viele im Club haben gemault. Mit den 300 Gulden (270 Mark), die der DFB mit der Clubführung als Nutzungsausfall pro Tag ausgemacht hat, würde man „mit einem Almosen abgespeist“, hieß es. Von „sehr negativer Stimmung“ ist die Rede, denn „hier ist wahrlich keiner ein Freund der deutschen Elf“. Der DFB hat das beschauliche Vereinsleben heftig durcheinander gewirbelt. Lemirsia-Kneipier Klein stöhnt: „Der ganze Verein hat nur Verluste durch die Deutschen, und uns zahlt überhaupt niemand etwas.“ Klar, wenn monatelang kaum wer auf ein Kopje Koffie oder ein Bier bei ihm kommt. Oder wird Lothar Matthäus nach der Trainingsfron bei Rico sein Weißbier trinken?

Federn lassen für hohe Gäste

Raymond Schenk könnte sich das vorstellen. Der 68-Jährige ist Vorsitzender von Lemirsia und spürbar stolz auf die hohen Gäste. „Da muss man auch mal Federn lassen, das ist doch einmalig“, sagt er, und es klingt recht gebauchpinselt. „Wie Kameraden“ seien die DFB-Herren gewesen bei den „lockeren, gemütlichen Verhandlungen“. Und das Geld? „Wir haben nach 10.000 Mark gefragt für unsere Kosten. Aber ob wir das bekommen – keine Ahnung.“ Und wenn nicht? „Vielleicht kann der Rico in seiner kleinen Kantine was mitnehmen. Vielleicht trinkt die Presse ja mal einen Kaffee bei uns.“ Oder die Spieler? „Ja, vielleicht, ja.“ Und er lacht.

Draußen baggern die Bagger. Die Gemeinde Vaals hat gut 150.000 Mark investiert, die Kaufmannschaft des Ortes 30.000 Mark dazugelegt: für Promotion, Werbung, Beflaggung. Nach heftiger Ratsdebatte, denn das Geld war vielen Politikern zu viel, die geplanten Aktionen waren ihnen zu albern und unnütz. Der Einzelhandel jubiliert indes. Und die Wirte. Und die Hoteliers, „die doppelte und dreifache Preise nehmen“, wie der Inhaber des Vaalserhofs berichtet. Außer bei ihm natürlich: „Ich habe alles vermietet an Familie und Freunde von Sepp Maier, aber zum regulären Preis.“ Dass die Leute rund um das Hotel „quasi Hausarrest haben werden“, wie er es nennt, sei ärgerlich: „Aber nach der Vorrunde sind die Deutschen ja weg.“

Bei manchen Wirten geht Überzeugung auch vor Geschäft, etwa bei Jean Winkens vom Café Allure: „Wer wartet denn schon auf diese Deutschen?“, stänkert der überzeugte Holland-Chauvinist. „Aber was soll ich mich aufregen? Die sind ja schon immer hier.“ Alte Ressentiments, die eigentlich mit den Jahren weniger geworden sind, bekommen wieder Nahrung: „Wir“, weiß Winkens, „sind doch auch so schon die Gemeinde mit dem mit Abstand höchsten Deutschenanteil in ganz Holland.“ Seine Kneipe wird, das darf man annehmen, bei der Euro 2000 zum Inländer-Getto.

Im Schloss Bloemendal, der zweiten Edelherberge im Orte, werden die Kicker-Gattinnen wohnen. Hier, wo einst schon Sigmund Freuds Tochter Anna und Kennedys Mutter Rose die gute Luft genossen, freut sich Hotelmanager Frans Cox „auf die deutschen Spielerfrauen und Bobos“. So redet er aber nur unter Landsleuten – „Bobos“ ist der holländische Spottbegriff für VIPs und Wichtigtuer. Derweil zählt die Lokalzeitung die Tage bis zum Eintreffen der Deutschen am 8. Juni. „Nicht mehr viel Zeit, dafür zu sorgen, dass Matthäus ruhig schlafen kann.“