Jenseits von Markt und Staat

Bürgerinitiativen und Selbsthilfegruppen, kritische Ärzte und verantwortungsvolle Laien für eine Gesundheitsbewegung von unten:Auf dem Gesundheitstag 2000 wird eine alte Tradition wieder belebt und für die Zukunft eines sozialen Gesundheitswesens gestritten

von OLE SCHULZ

Seit Jahren gilt der Gesundheitsmarkt als Wachstumsbranche – gleichzeitig zeichnen Gewerkschaften und Ärztefunktionäre ein düsteres Bild bevorstehender Massenentlassungen von Krankenschwestern und Sprechstundenhilfen, Masseuren und Klinikärzten. Sicher ist allenfalls, dass die individuelle Gesundheit in der Werteskala der Deutschen inzwischen ganz weit oben steht. Mit Sicherheit kann auch davon ausgegangen werden, dass die Gesellschaft weiter altern wird – und weil wir uns auf eine geriatrische Gesellschaft zubewegen, werden gerade bei den personalintensiven Dienstleistungen neue Arbeitsplätze geschaffen werden – wenn auch nicht unbedingt die qualifiziertesten.

Andere wichtige Fragen sind weiterhin offen: Muss die Solidargemeinschaft künftig auch für die neuen „Lifestyle-Drugs“ wie Viagra aufkommen – oder sprengt das den Finanzrahmen der Kassen? Wird die gesetzliche Krankenversicherung angesichts steigender Kosten und sinkender Einnahmen mittelfristig auf eine Pflichtversicherung zurückgestutzt werden? Droht gar eine Zweiklassenmedizin, oder lassen sich neue Finanzierungsquellen erschließen? Ein Ansatz dafür wäre eine Gesundheitssteuer, die auch auf Aktiengewinne erhoben werden könnte. Weil Steuern aber nicht zweckgebunden verwendet werden dürfen, bevorzugen andere eine Sonderabgabe auf gesundheitsschädigende Produkte.

Alle, die an die Zukunft eines sozialen Gesundheitswesens glauben, sind eingeladen, vom 31. Mai bis zum 4. Juni in Berlin am Gesundheitstag 2000 teilzunehmen. 20 Jahre nachdem der erste Gesundheitstag von Ellis Huber, dem langjährigen Präsidenten der Berliner Ärztekammer, initiiert wurde, wird in Berlin erneut ein Gesundheitstag stattfinden. Mehrere tausend Teilnehmer werden zu den über fünhundert Veranstaltungen erwartet, die in zwölf Themenbereiche gegliedert sind (siehe Programmauswahl Seite 22/23 und zu den 12 Themenbereichen Seite 24). Ein Gesundheitsparlament der BürgerInnenschaft soll dabei zusammentreten und in erster Lesung die „Berliner Charta für ein soziales Gesundheitswesen“ diskutieren. Daneben wird auf dem Europäischen Gesundheitsforum über internationale Konzepte und Erfahrungen einer sozialen Gesundheitspolitik gestritten.

Während der Gesundheitstag 1980 eine „breite Suchbewegung, ein Jahrmarkt der Visionen“ gewesen sei, gehe es nun darum, „eine Perspektive jenseits von Staat und Markt deutlich zu machen“, so Ellis Huber. „Heute können wir viel klarer sagen, wie ein soziales Gesundheitswesen aussehen muss.“ Huber ist jedenfalls davon überzeugt, „dass sich der Karren drehen lässt und das Schröder/Blair-Papier nicht das letzte Wort für eine sozial gerechte Gesellschaft gewesen ist“.