Jenseits der Expo in der Expo-Stadt

Eine ganz gewöhnliche deutsche Provinzhauptstadt mit den Sünden des Wiederaufbaus, der Liebe zum Auto und Bushaltestellen zum „Schöner warten“. Mit „Stattreisen“ durch die niedersächsische Metropole Hannover
von GÜNTER ERMLICH

Weltgrößte Industriemesse. Ältester Flohmarkt Deutschlands. Größtes Schützenfest der Welt. Dienstältester Oberbürgermeister der Republik. Erste „autogerechte Stadt“ Deutschlands. Weltunikum „schräger Fahrstuhl“ im Rathaus. Der „Gorillaberg“ im Zoo als Europas schönste Menschenaffenanlage. Eisenbahnknotenpunkt mit den meisten ICE-Anschlüssen. Größter Stadtwald Europas namens Eilenriede. Das Alte Rathaus als südlichstes Gebäude der norddeutschen Backsteingotik. Nicht zu vergessen Ernst August „die Faust“ von Hannover, der schlagkräftigste Adelige weltweit.

Das ist Hannover. Im Superlativ, wie es sich gern sieht und aus Notwehr wohl sehen muss. Denn das Image der norddeutschen Halbmillionenstadt draußen im Lande ist bescheiden: langweilig, provinziell, hässlich, grau, spießig, 08/15. Im Städte-Ranking würde Hannover, hauchdünn vor Bielefeld, eine Spitzenposition einnehmen. Von unten gesehen, versteht sich. Hannover, wie glatt und kantenlos dieser Name klingt, Hochdeutsch spricht man obendrein. Hannover sei „ein anderes Wort für nasskalt, nasskalt und zuweilen nassforsch“, befand der eingeborene Lyriker Karl Krolow. „Die Fußgängerhölle ist wirklich hardcore“, beschied Titanic-Kolumnist Max Goldt aus eigener Anschauung. „Es ist die wohl superfieseste Hardcore-Fußgängerhölle des Landes.“ Und im Merian urteilte die weggezogene Autorin Ulla Plog: „Hannover hat eigentlich kein schlechtes Image. Es hat gar keins.“ In einem Cartoon von Freimut Wössner sieht man einen Bus mit der Aufschrift „Stadtrundfahrt Hannover“: Alle Touristen schlafen selig. Das wollen wir vermeiden. Deswegen sind wir mit dem Verein „Stattreisen Hannover“ unterwegs, um eine andere Sicht der Stadt zu erlaufen.

Trockenkurs im Foyer des wilhelminischen Rathauses. Stefan Schmidt von Stattreisen beginnt anhand von vier Modellen die Stadtentwicklung nachzuzeichnen: von der Residenzstadt 1639, großer Zeitsprung, über die Vorkriegsepoche mit verwahrloster Altstadt zum Modell „Kriegsende 1945“: Hannovers Innenstadt ist zu 85 Prozent zerstört, nur 30 von einst 1.600 Fachwerkhäusern blieben intakt. Die Trümmermassen hätten den 58 Hektar großen Maschsee zweimal füllen können. Schließlich das Modell „Hannover heute“: Ein paar Kirchtürme dominieren die Himmelslinie, da die „Hochhäuser“ maximal fünf Stockwerke messen.

Draußen folgen wir Stadtbilderklärer Stefan beim Rundgang: Wiederaufbau der Trümmerstadt in den Fünfzigerjahren oder „Das Wunder von Hannover“, wie zuerst eine italienische Zeitschrift kühn titelte. „Ein einheitlicher, großzügiger, durchgeplanter Wiederaufbau“ sei das gewesen, sagt Stefan. Ein Name, ein Programm: Stadtbaurat Rudolf Hillebrecht, Bauhaus-Schüler und Vertreter der Moderne, sah die Kriegszerstörung als Chance und schuf die „autogerechte Stadt“. Der Städtebauer dachte – damals durchaus visionär – an ein Auto pro 10 Einwohner; heute kommt ein Pkw auf jeden Hannoveraner. Ein breiter Cityring wurde angelegt, um die Innenstadt vom Durchgangsverkehr zu entlasten. Zum Beispiel das Leibnizufer an der Leine. Wo in „Klein-Venedig“, einem romantischen, aber verruchten Altstadtquartier, einst Gauner und Mörder wie Fritz Haarmann („Warte nur ein Weilchen ...“) hausten, brettern heute Autos auf einer sechsspurigen Betonschneise.

Was damals als Inbegriff moderner Stadtplanung galt, ist heute Schreckgespenst jedes Urbanisten. Hillebrecht ließ Funktionsviertel anlegen: das Regierungs-, Banken- Handels- und das Vergnügungsviertel. Handwerksbetriebe und Wohnungen hatten in dieser funktionsgerechten Innenstadt nichts zu suchen. Kleine Gässchen wurden verbreitert, 15 Prozent der Innenstadtfläche gehört dem Verkehr.

Historisierende Bauweisen waren Hillebrecht & Co. verpönt, alles Verwinkelte, Verspielte, Heimelige obsolet. Der einfache, funktionale, dynamische Baustil der 50er-Jahre dominierte. So wie in der Karmaschstraße. Eckhäuser mit geschwungenen Rundungen, unterschiedlich gestaffelte Gebäudeetagen, Attikageschosse, horizontale Fensterbänder. Die Karmaschstraße wurde auf 33 Meter verbreitert. „Es ist, als habe ein Mächtiger die Arme mit einer Schwimmstoßbewegung in die Straßenschlucht hineingestoßen“, wunderte sich die Hannoversche Allgemeine Zeitung seinerzeit (29. 8. 1950), „um weit ausladend die Front der Häuser zurückzuschieben“.

Damit das Vorkriegs-Hannover für die Nachgeborenen ein bisschen lebendig bleibt, transportierte man die überlebenden Fachwerkhäuser, genauer deren Fassaden, in der Kramerstraße und stellt sie dort im Ensemble wieder auf. Eine „Traditionsinsel“ im Meer der 50er-Jahre. Um die Ecke in der Knochenhauerstraße hat die Kommune ihren Sohn mit Weltgeltung, den Dadaisten Kurt Schwitters, mit einer in Kopfsteinpflaster eingelassenen Bronzeplatte verewigt. Von hinten buchstabiert läse sich Hannover als „Re von nah“, rückwärts von nah, also „vorwärts nach weit, nämlich ins Unermessliche“. Denke sich jeder sein Teil. Weiter im Schwitters-Text: „Hunde bitte an der Leine führen.“

Vor dem grauen Betonklotz des Leineschlosses, Sitz des niedersächsischen Landtags, umringen uns Neuntklässler der Realschule Seelze. Sie sind mit Fragebogen auf Rallye über den „Roten Faden“, jenen gut vier Kilometer langen Strich auf dem Straßenpflaster, der 36 Sehenswürdigkeiten in der City miteinander verbindet. „Frage 7“ ihres Fragebogens: „Welche zwei bekannten Gebäude in Hannover sind im Zweiten Weltkrieg nicht zerstört worden?“ Wir können helfen: gerade gelernt bei Stefan von Stattreisen. Also, das Anzeiger-Hochhaus (klinkerverkleidetes Gebäude der Zwanzigerjahre, 1947 bis 52 Sitz des Spiegel) und das Alte Rathaus (gotischer Backsteinbau des 15. Jahrhunderts, schöner Ratskeller). Die Schulkids notieren es zufrieden.

Die Markthalle gegenüber vom Alten Rathaus, „der Bauch von Hannover“, ist nach dem Zweiten Weltkrieg wieder aufgebaut worden. Samstags zieht man sich fein an und flaniert durch den Delikatessentempel. Wie auch die lokalen Größen, „der Gärt“ (Schröder) und die Monika (Griefahn). Mit einem oder zwei Prosecco könnte man dann beschwingt trödeln gehen, auf der Flohmarkt-Meile am Hohen Ufer. Dort, wo der Legende nach Hannover von Händlern an einer Leinefurt gegründet worden sein soll.

Vis-à-vis des Flüsschens, am verkehrsumtosten Leibnizufer, bringen drei dralle, poppige „Nanas“ Farbe ins Straßenbild. Die überlebensgroßen Plastikfiguren der französischen Künstlerin Niki de Saint Phalle sind die bekanntesten Früchtchen des „Experiments Straßenkunst“. Eine zwar unkonventionelle, aber nicht uneigennützige Imagekampagne. Denn der modellhaften Stadtentwicklung der 50erJahre war eine Stadtflucht der Bürger aufs flache Land in den 60ern gefolgt. Und eine bundesweite Umfrage hatte der niedersächsischen Landeshauptstadt das Attribut „vorwiegend grau“ beschert. Also legte die Stadt von 1970 bis 1973 ein „Straßenkunstprogramm“ auf, erwarb 200 Kunstwerke und ließ sie wie Bäume aufs Pflaster pflanzen, um Hannover bunter und lebenswerter zu machen. So weit, so bürgerverträglich.

Bis 1974 die Nanas kamen. Für 150.000 Mark Anschaffungskosten. In Hannover brach der Kunstkampf aus: Die HAZ druckte 235 aufwühlende Leserbriefe, eine Bürgerinititative „Weg mit den Nanas“ machte für Notarztwagen, Feuerwehrautos und Kinderspielplätze mobil, während „Freunde der Nanas“ Happenings veranstalteten und 15.000 Unterschriften zu ihren Gunsten sammelten. Doch das Straßenkunstprogramm verpuffte zunehmend. „Das Geld wurde knapp, die Kunstwerke verwahrlosten, weil Geld für Reparaturen im Budget nicht vorgesehen war“, bilanziert Stefan von Stattreisen.

Seit Mitte der Neunzigerjahre können Fahrgäste an neun Haltestellen „Schöner warten“. Internationale Designer gestalteten kunstvolle „Busstopps“ als Inseln im Verkehrsstau. Unikate wie die Haltestelle am Friedrichswall (Buslinien 22, 23): ein aereodynamisches, efeuumranktes Schiff mit Bug. Oder die Haltestelle am „Steintor“ (Stadtbahnlinie 16, 17): eine Trutzburg mit gelb-schwarzem Schachbrettmuster und güldenen Turmspitzen.

Mit Anke Biedenkapp, Gründerin und Spiritus Rector von Stattreisen Hannover, spazieren wir durch die Nordstadt. In das studentisch-alternativ-multikulturell geprägte Stadtviertel verirrt sich kaum ein Geschäftsreisender und Messebesucher. Im Welfenschloss, für Georg V., den letzten König von Hannover, errichtet, hat sich heute die Universität breit gemacht. Anke Biedenkapp rekapituliert das Schicksal vom Uni-Privatdozenten der Philosophie, Theodor Lessing. Dem Hannoveraner wurde zum Verhängnis, dass er in einem Zeitungsartikel zur Reichspräsidentenwahl 1925 einen damals sehr beliebten Hannoveraner, Paul von Hindenburg, als „Zero“ bloßstellte und das Todesurteil gegen einen tief verhassten Hannoveraner, Fritz Haarmann, als „Justizmord“ denunzierte. In der zunehmenden Pogromstimmung wurde der jüdische Geist von der Uni vertrieben. Theodor Lessing musste später aus der Stadt fliehen und wurde 1933 in Marienbad von NS-Schergen ermordet.

Neben der Uni mit ihren Szenekneipen macht die bunte Mischung die Nordstadt zum Vorzeigeviertel: Sanierte Wohngebiete mit Blockheizkraftwerk und ökologisch gestalteten Fassaden; Sozialwohnungen haben schon mal Maisonette-Stockwerke. Alternative Projekte wie die Freie Glockseeschule des Sozialwissenschaftlers Oskar Negt, eine Werkstattschule, in der junge Leute, die in der Regelschule gescheitert sind, eine Schul- und Berufsausbildung erhalten. Umgenutzte Industriestätten wie den Werkhof: Wo früher Aufzüge produziert wurden, können heute Veranstalter in ökologischem Ambiente tagen: Die Türen sind aus Altpapier, die Klospülung funktioniert mit Regenwasser.

Pelikan, Geha, die Berliner Telephon-und Grammophongesellschaft, Sprengel – die Hannoveraner Firmen mit Industriestandort in der Nordstadt sind längst verschwunden oder von größeren Konzernen aufgekauft worden. Wir durchqueren das Sprengel-Gelände, wo bis 1980 „alles Schokolade“ war. Die leer stehenden Fabrikgebäude wurden Mitte der 80er-Jahre vor dem Zugriff von Spekulanten instand besetzt. Heute ist das Gelände „befriedet“, aus Besetzern sind legale Bewohner mit Nutzungsvertrag und geschätzte Stadtteilbewohner geworden.

In der Regel zieht es Hannover-Touristen aber ins Sprengel-Museum am Maschsee. Bernhard Sprengel, der Schokoladenfabrikant, vermachte der Stadt eine wertvolle Sammlung mit Bildern der Klassischen Moderne, darunter bedeutende Kunstwerke von Pablo Picasso, Max Beckmann, Max Ernst, Paul Klee und Kurt Schwitters. Hannover muss man nicht unbedingt erleben. Das Sprengel-Museum allemal.

Hinweis:Die Provinzstadt: Hannover hat eigentlich gar kein schlechtes Image. Es hat gar keines.