Subversion der Butterstulle

Alle lieben Slow Food, aber was machen die langsamen Genießer eigentlich mit der vielen Sympathie? Es ist hohe Zeit, sich einzumischen und politisch Flagge zu zeigen

von MANFRED KRIENER

Der Esser sitzt mittendrin im Hagelschlag der bösen Nachrichten. Kaninchen, dies war die letzte Meldung, fressen sich in engen Mastanlagen gegenseitig die Ohren ab. Puten haben inzwischen einen solch üppigen Brustumfang, dass sie beim Laufen ständig vornüberkippen. Bei den Hühnern werden jährlich 50 Millionen männliche Küken direkt nach dem Schlüpfen vergast oder im „Kükenmuser“ zu Brei zermahlen, weil sie zum Eierlegen nicht taugen. Bei Schweinen (Pest) und Rindern (BSE) war uns sowieso schon schlecht. Wachteln hat der Stuttgarter Koch Vincent Klink wegen barbarischer Haltungsmethoden ebenfalls von der Karte gestrichen. Also Fisch!

Der neue „Einkaufsführer Fisch“ des World Wildlife Fund (gemeinsam mit der Verbraucher-Zentrale Bremen) kann uns keine einzige Sorte nennen, die wir mit Freude essen könnten. Maischolle: „nicht empfehlenswert“, Rotbarsch: „nicht empfehlenswert“, Tunfisch: „wenig empfehlenswert“, Forelle: „eingeschränkt empfehlenswert“. Und zum Dessert gibt’s – der Appetit kommt beim Essen – die neue Schokoladenrichtlinie der EU, die wertvolles Kakaofett aus Entwicklungsländern durch heimisches Rapsöl ersetzt. Wer jetzt noch nicht genug hat, bekommt infektiösen Harzer Roller aus der letzten Rückrufaktion der Supermärkte serviert. Käse schließt den Magen.

Die Jeremiade der Verbraucher, die mit heulendem Sirenenton fragen, was man überhaupt noch essen könne, ist mehr denn je berechtigt. Essen mit Appetit und Spaß, womöglich sogar mit Genuss, wird immer schwieriger, wenn schon der Heringsdip ein Fall fürs Umweltbundesamt ist. In solch heiklen Zeiten braucht es nicht nur robuste Esser, sondern vor allem: neue Ideen und Initiativen rund um Messer und Gabel. Die gibt es seit sieben Jahren auch in Deutschland. Während sich die grell geschminkte Visage der Food-Konzerne zunehmend grässlicher präsentiert, proklamiert Slow Food unter dem Emblem der Schnecke in mittlerweile 45 Ländern – neuerdings selbst in China! – das Recht auf Genuss. Umstellt von Hühnerbaronen, Hormonmästern und Fünf-Minuten-Terrinen predigen die Ökogastrosophen Langsamkeit und authentischen Geschmack, Regionalität und die Küche unserer Großmütter, eine ökologische Produktion und die Subversivität der Butterstulle.

Das Ergebnis ist bekannt. Offenbar besteht ein diffuses Gespür dafür, dass wir diese Organisation nötig haben. Eine Sympathie-Orgie prasselt auf die Bewegung nieder. TV- und Zeitungsberichte über Slow Food werden zu kaum verdeckten Werbefeldzügen. Zum Jahresfestival nach Lübeck kam neben 10.000 Besuchern ein Pressetross wie bei einem veritablen Parteitag. Die Fieberkurve des Mitgliederzuwachses zeigt naturgesetzlich nach oben. Nur: Was macht Slow Food nun mit dieser Sympathiewelle? In welche Richtung surfen die Schnecken? Eine Antwort suchen die Delegierten auf ihrer heutigen Jahresversammlung im oberfränkischen Münchberg.

Das Slow-Food-Dilemma ist unübersehbar: Die Ausstrahlung der Bewegung ist weit größer als ihre organisatorische Power. Die Sehnsucht nach einer Art Greenpeace der Tischkultur und Landwirtschaft ist groß. Gesucht wird eine Stimme der Verbraucher, die das für eine intelligente Widerspruchsinstanz reservierte Machtvakuum ausfüllen könnte – jemand, der mit Kompetenz und Leidenschaft gegenhält. Manchmal scheint es, als ob die Verantwortlichen noch gar nicht begriffen hätten, welchen Hoffnungsträger sie da geboren haben.

Slow Food will der Monstrosität des „Weiter so“, dem „Fast Life“ und dem „Diktat der Produktivität“ die Gelassenheit des sinnlichen Genusses“ gegenüberstellen, so ihr Gründungsmanifest von 1989. Doch mit der Leuchtkraft ihrer Idee ist ihnen eine Rolle zugewachsen, die auszufüllen verdammt schwer fällt. Weder die Verbraucherzentralen noch die Biobewegung oder die Konkursmasse der versprengten Umweltkämpfer waren bisher in der Lage, die Barbarei der Tierhaltung und den Untergang des Geschmacks auch nur ein wenig aufzuhalten. Slow Food muss sich dieser Aufgabe aber stellen, wenn es nicht überflüssig werden will. Es muss sich stärker einmischen und endlich in die Puschen kommen. Es muss kampagnenfähig werden. Die geplante Arche Noah des Geschmacks, die als Passagiere vom Aussterben bedrohten Haustierrassen, Obst- und Gemüsesorten aufnehmen soll, muss endlich in See stechen. Die Sintflut ist nämlich schon da. 75 Prozent aller Nutzpflanzen sind im vergangenen Jahrhundert ausgestorben.

Jede Bewegung hat ihre Zeit. Die heutige schreit, jenseits von „Näsdäg“ und Globalisierungswalze, nach Langsamkeit, nach Authentizität und dem fast schon anarchischen Ruf nach Genuss. Wirklichen Genuss kann es nicht mit der heutigen Massentierhaltung geben, nicht mit Aromapellets, Klärschlammfütterung und Tomaten mit Briefmarkengeschmack. Wer nicht bei der Erkenntnis stehen bleiben will, dass Wein, Brot und Käse ein unschlagbares Trio sind, der muss sich auch politisch einmischen. Dazu gehört eine stärkere Professionalisierung, ein Pressesprecher und eine regelmäßige Reaktion auf die täglichen Zumutungen. Wenn Schweine mit Dioxin gefüttert werden, wenn der Coca-Koma-Skandal tobt und Brüssel die Kennzeichnung genetisch manipulierter Gemüsesorten ablehnt, dann ist Slow Food gefordert, dann heißt es, mit Fantasie, Witz und Engagement Stellung zu nehmen.

Sicher: Die Manpower der deutschen Sektion ist begrenzt, die Mitglieder arbeiten bis auf den Geschäftsführer alle ehrenamtlich. Aber man hat offenbar auch Angst, sich ins Schlachtengetümmel zu werfen. Die politischen Berührungsängste sind nicht nur in der italienischen Zentrale verankert, die mit ihren mehr als 100.000 Mitgliedern im internationalen Geschäft die Richtung angibt. Die italienische Führungsmannschaft kommt aus der Linken und will vom alten Stellungskrieg, von Aktionismus und Agitation nicht mehr viel wissen. Präsident Carlo Petrini und seine Mitstreiter haben bestimmte Aktionsformen satt, als gebrannte Kinder suchen sie neue Strategien.

Dennoch: Slow Food kann das „schmutzige“ Alltagsgeschäft nicht länger ignorieren. Die Organisation muss politischer werden, wenn sie ihre Chancen nicht verspielen will. In hunderten von Zeitungsredaktionen und Ministerien sitzen Sympathisanten und potenzielle Verbündete, die entzückt wären, wenn neben dem Bund der Steuerzahler und der Eisenbahnergewerkschaft auch mal ein echtes Lebenszeichen einer noch atmenden Organisation in ihre Stuben dränge. Niemand erwartet, dass sich der Vorstand gleich in Hühnerkäfige zwängt und bei der EU-Kommission ankettet. Aber: Slow Food muss endlich politisch erkennbar werden.

Wohin kriecht sie also, die Schnecke? Hoffentlich nicht zurück ins eigene Haus! Schnecken sind nicht nur extrem reinlich und in der Auswahl ihrer Nahrungsmittel hoch sensibel. Sie können auch beachtliche Entfernungen zurücklegen – wenn sie sich ins Zeug legen.

Hinweise:Die Sehnsucht nach einer Art Greenpeace der Tischkultur ist großIn Redaktionen und Ministerien sitzen potenzielle Verbündete