EINE GROSSE REDE: RAU GAB SICH UND DER GESELLSCHAFT EINEN RUCK
: Visionär und ein bisschen moralisch

Es gibt Reden, die wichtig sind, weil sie auf Probleme hinweisen. Solche Reden sind keine Seltenheit. Wichtiger sind Reden, wenn sie, wie vage auch immer, Lösungen formulieren. Herzogs Ruck-Rede etwa versuchte, Wege aus dem Reformstau zu weisen. Wirklich bedeutend ist eine Rede aber nur, wenn sie unser Bild davon ändert, wer wir sind.

Eben dies gelingt Johannes Rau mit seiner „Berliner Rede“. Nach einem glücklosen ersten Jahr im Amt hätte man ihm so viel rhetorische, geistige, politische Kraft nicht zugetraut: Der Bundespräsident formuliert einen Grundstein für ein multikulturelles Deutschland. Er entwirft nicht weniger als ein neues Bild der Bundesrepublik – davon, welche Gesellschaft wir sein können: Nur wenn wir uns alle verändern, Einheimische wie Zugezogene, werden wir ein gemeinsames Deutschland bilden. Für den Präsidenten ist deshalb Integration, das Leitmotiv seiner Ansprache, nicht nur Sache der Einwanderer. Rau präsentiert Integration als Schlüssel für ein neues Selbstverständnis der Mehrheitsgesellschaft: Nicht länger sollen die Deutschen die Ausländer integrieren – vielmehr integrieren beide sich in ein Deutschland, dessen künftige geistige Form sie vielleicht selbst erst erahnen.

Der Gedanke mag nicht allen Zuhörern neu scheinen. Für die Bedeutung einer Rede ist das nicht weiter maßgeblich, wie Weizsäckers Ansprache zum 8. Mai 1985 zeigt. Weizsäckers Interpretation des Kriegsendes als Tag der Befreiung statt als Tag der Niederlage war schon damals keineswegs frisch. Trotzdem haben die Deutschen erst durch seine Rede begriffen, dass sie die Nazi-Vergangenheit nicht länger leugnen können. Ausschlaggebend für die politische Wirkung einer Rede ist also, dass eine vorher ignorante Mehrheit durch sie einen Gedanken als wahr erkennt. So verändert eine Gesellschaft ihr Bild von sich selbst.

Dabei hat Raus Ansprache auch Mängel. Ihre größte Schwäche ist des Redners schwächster Punkt: die Scheu vor der Konfrontation mit den Regierenden. So traute sich der Präsident nicht, dem Kanzler sein Einknicken beim Doppelpass vorzuwerfen. Er schreckte davor zurück, in der gebotenen Deutlichkeit ein Einwanderungsgesetz zu fordern. Dafür hat er etwas Wichtigeres unternommen – und etwas Schwierigeres erreicht. Der Bundespräsident rückt die verdrängten Wahrheiten der deutschen Multikulti-Debatte ins Bewusstsein: die Ängste der Rechten und die Träumereien der Linken. Rau weiß, dass das geistige Fundament für eine multikulturelle Gesellschaft nur verlässlich sein kann, wenn es auf Realitäten gründet. Er nennt daher die Ängste der Konservativen „legitim“ und warnt die Progressiven vor „falsch verstandener Ausländerfreundlichkeit“. Zuwanderung sei stets beides: „Belastung und Bereicherung“.

Fast wie nebenbei hat der Bundespräsident mit seiner Berliner Rede gezeigt, dass man als Politiker über den Tag hinausdenken kann. Die meisten, die nach mehr Visionen in der Politik rufen, sehnen sich nur nach dem politischen Äquivalent einer Musterhaus-Siedlung – sauber, frisch und tot. Rau skizziert eine Idee für die widersprüchlichen, zynischen, schwierigen Zeiten, in denen wir leben – und bietet ein Bild von der Realität, das uns mit dieser versöhnt, auch wenn wir sie bisher nicht recht wahrhaben wollten. Das ist reichlich visionär. Und sogar ein bisschen moralisch. PATRIK SCHWARZ