Wut auf den Waffenwahn

Mütter sind ein Machtfaktor in den USA. Mit ihnen mögen sich auch die Millionen Waffennarren der National Rifle Association (NRA) nicht anlegen

aus Washington PETER TAUTFEST

Die Nachricht erhielten Bob und Betsy Brickhouse um Mitternacht – zwei Tage nachdem es passiert war. „Ein Polizeibeamter rief an und sagte: ,Ich muss Ihnen die traurige Mitteilung machen, dass Ihr Sohn vorgestern Abend an einer Straßenkreuzung in New Orleans erschossen wurde.‘ Es hat eine Stunde gedauert, bis wir überhaupt kapierten, was der Mann am Telefon da gesagt hatte“, erzählt Bob Brickhouse.

Tom, der 23-jährige Sohn von Bob und Betty Brickhouse aus Charlottesville, Virginia, war der Musik wegen nach New Orleans gezogen. „Musik war seine Leidenschaft. In New Orleans wollte er sein Glück machen“, sagt Betsy Brickhouse. Eines Abends vor fünf Jahren habe Tom auf dem weg nach Hause unweit seiner Wohnung einen Freund getroffen. Sie standen an einer Straßenecke und unterhielten sich in der Abenddämmerung. Da kamen zwei Jugendliche um die Ecke – 14 Jahre alt, vielleicht auch etwas älter. Sie sprachen den Freund an und forderten ihn auf, sein neues Fahrrad herauszugeben. Der machte einen Scherz sowie eine abweisende Handbewegung und schwang sich auf sein Rad. Daraufhin zog einer der Jugendlichen eine Pistole, hielt sie Tom an die Schläfe und drückte ab. Der Freund auf dem Fahrrad wurde bei dem Vorfall leicht verletzt.

„Der Beamte am Telefon war freundlich, zeigte sogar Anteilnahme“, erinnert sich Betsy Brickhouse. „Aber gleichzeitig spürten wir Überforderung und Resignation in seiner Stimme. Dergleichen käme in New Orleans alle Tage vor, sagte er. Die Täter würden auf die gleiche Weise umkommen, wenn sie das nicht schon wären.“

Jeden Tag sterben in den USA 100 Menschen an den Folgen von Schusswunden, 12 davon sind Kinder und Jugendliche. Der ganz normale Wahnsinn eben in einem Land, in dem das Recht auf Bewaffnung ein Grundrecht ist. Die Waffenlobby, allen voran die vier Millionen Mitglieder starke National Rifle Association (NRA), unterstützt mit Millionenbeträgen Politiker, die sich gegen jedwede Beschränkung des Besitzes von Waffen aussprechen.

Eine Gruppe, die den Kampf mit der mächtigen Waffenlobby aufgenommen hat, sind Amerikas Mütter. Am morgigen Muttertag werden in Washington 100.000 Demonstrantinnen und Demonstranten zum „Million Mom March“ erwartet. „Not a mom, not a problem“, steht auf einem der rosa Plakate, die in Geschäften und öffentlichen Räumen der US-Hauptstadt aushängen: Man muss nicht Mutter sein, um gegen Schusswaffen zu demonstrieren. In 60 weiteren US-Städten, in denen gleichzeitig demonstriert wird, kommen womöglich eine Million Waffengegner zusammen. Sie wollen für „sinnvolle Beschränkungen des Waffenbesitzes in den USA“ demonstrieren.

Auch Betsy Brickhouse wird in Washington dabei sein. Sie hat vor Monaten durch ihre Tochter, die in Denver, Colorado, lebt, von dem Marsch gehört. Dort stand man noch unter dem Schock der Schießerei an der Columbine Highschool in Littleton, bei der vor einem Jahr 14 Schüler und ein Lehrer starben.

Organisiert hat den Marsch der Mütter auf das Washingtoner Capitol Donna Dees-Thomases, eine Journalistin und Mutter aus dem Bundesstaat New Jersey. Dees-Thomases ist PR-Expertin und hat als Beraterin beim Fernsehsender CBS gearbeitet. Die Idee zum „Million Mom March“ sei ihr gekommen, als sie im letzten Jahr im Fernsehen die Bilder von den Kindern sah, die unter Polizeischutz aus einer Tagesstätte in Granada Hills bei Los Angeles in Sicherheit gebracht werden mussten, sagt Dees-Thomases. Ein bewaffneter Antisemit war in das jüdische Gemeindezentrum eingedrungen. „Das hätten auch meine Kinder sein können“, so Dees-Thomases. Sie wollte Druck auf den US-Kongress ausüben, damit der ein Gesetz verabschiede, das den Erwerb von Waffen strengeren Auflagen unterwirft. Zunächst sprach sie nur mit einigen Nachbarinnen. Entwickelt hat sich daraus bis heute eine nationale Organisation mit Koordinatorinnen in jedem Bundesstaat und tausenden von Freiwilligen.

Theresa Dayrit aus Richmond, Virginia, hatte sich eigentlich nur nach einer Mitfahrgelegenheit nach Washington erkundigen wollen. Da wurde sie gefragt, ob sie nicht Organisatorin des Marsches in Virginias Hauptstadt Richmond werden wollte. „Bei der Organisationsarbeit geholfen hat, dass Donna Dees-Thomases gute Kontakte zu den Medien hat, Kontakte, die auch bis ins Weiße Haus reichen“, erzählt Theresa Dayrit. „Wir führen eine professionelle Medienkampagne, ich habe zuerst Leserbriefe, dann aber auch Artikel im Times Richmond Dispatch geschrieben. Ich wurde im Fernsehen interviewt – zusammen mit einer Frau, die für die Beibehaltung des Grundrechts auf Waffenbesitz ist. Und die Lokalzeitung brachte eine ganzseitige Geschichte über den Million Mom March. Meine Artikel recherchierte ich im Internet. Dort finden Debatten statt, gibt es jede Menge Material. An manchen Tagen habe ich stundenlang E-Mails beantwortet oder in Internet-Chatrooms Diskussionsbeiträge geschrieben.“

Alois Dayrit, Theresas Mann, ist ein österreichischer Neurochirurg, der in Berlin gearbeitet hat, bevor er 1994 nach Richmond kam. „In Berlin habe ich vier oder fünf Kopfschüsse im Jahr behandelt,“ sagt Dayrit, „in Richmond erlebe ich das an nur einem Wochenende.“ Die Allgegenwärtigkeit der Gewalt in US-Städten hat die Dayrits überrascht. „Als wir in Richmond eine Wohnung suchten, habe ich jedes Mal gefragt, ob man in der Gegend auch nachts zu Fuß nach Hause kommen kann“, erinnert sich Theresa Dayrit. „Die Leute haben mich angestarrt, als sei ich verrückt. Hier kann man nach Einbruch der Dunkelheit nirgendwo herumspazieren, wurde mir gesagt. In Berlin bin ich zu jeder Tages- und Nachtzeit herumgelaufen, wo es mir beliebte – und ich bin Asiatin“, fügt sie hinzu.

„Ich bin ein Stadtmensch“, sagt Alois Dayrit, der in Wien aufgewachsen ist. „Ich wollte nicht in die Vorstadt.“ Nicht nur in Richmond hat die Umkehrung des Exodus nach Suburbia eingesetzt. Viele Menschen wollen wieder in die Stadt zurück, wo sie weder Rasen mähen noch stundenlang auf dem Weg zur Arbeit im Stau stehen müssen, dafür abends in eine Kneipe gehen können. Erstmals setzen sich auch Leute für eine Beschränkung des Waffenbesitzes ein, für die Schießereien bisher nur in den verwahrlosten innerstädtischen Ghettos stattfanden – dort, wo Schwarze wohnen und sich Jugendgangs bekriegen. Nach einer Umfrage finden inzwischen 73 Prozent der Befragten, dass Beschränkungen des Waffenbesitzes wichtiger sind als das uneingeschränkte Recht auf eine Waffe.

Mit den Müttern mögen sich die Waffennarren der NRA nicht anlegen. Mütter sind in den USA ein Machtfaktor. Und die Macht der Mütter ist in den USA in diesem Jahr nicht nur symbolisch. Nach Auskunft der Demoskopen werden Frauen die diesjährigen US-Wahlen entscheiden. Männer wählen mehrheitlich die Republikaner, allein stehende, allein erziehende und schwarze Frauen die Demokraten. Zünglein an der Waage sind die Vorstadtfrauen mit Kindern. Wenn sie so zahlreich zur Urne gehen, wie sie am Sonntag nach Washington kommen, könnte die Haltung zum Waffenbesitz für manchen Abgeordneten wahlentscheidend sein.

Die Mütter gegen Waffenbesitz werden nicht die Einzigen sein, die an diesem Sonntag in Washington demonstrieren. Die „Second Amendment Sisters“, die Schwestern für den zweiten Verfassungszusatz, der das Recht auf Waffenbesitz garantiert, veranstalten am gleichen Tag eine Gegendemonstration in der Hauptstadt. Auch in ihren Reihen sind Frauen, die einen Sohn durch Waffengewalt verloren haben. Sie aber glauben, dass mehr Waffen besonders Frauen sicherer machen. Sicher ist auf jeden Fall, dass Waffen und Gewalt in den USA zum zentralen Wahlkampfthema geworden sind.

„Der Million Mom March wird Wunden aufreißen, die ohnehin nie verheilen können“, sagt Betsy Brickhouse. „Aber eine der Nonnen, die uns damals in New Orleans aufnahmen, als wir unseren Sohn abholten, hat mir gesagt, ich solle nicht versuchen, den Schmerz zu unterdrücken. Je öfter ich daran dächte, desto besser. Katholiken verstehen etwas vom Tod“, sagt Betsy Brickhouse. „Beim Million Mom March werde ich erstmals wieder unter Leuten sein, die meine Sprache sprechen. Man wird so einsam, wenn man den gewaltsamen Tod seines Kindes mit sich herumträgt.“