Kein Ruck. Und doch ein Kick

In seiner „Berliner Rede“ nutzt Rau seinen Stil und findet in sein Amt

von PATRIK SCHWARZ

„Es kommt nicht auf die Herkunft des Einzelnen an . . .“ Für seinen letzten Halbsatz blickt der Präsident vom Blatt auf und dem Publikum ins Gesicht. „. . . sondern darauf, dass wir gemeinsam die Zukunft gewinnen.“ Ohne den Applaus abzuwarten, steigt Johannes Rau nach knapp einer Stunde vom Podium. Wortlos setzt er sich neben seine Frau Christina. Ob die 600 geladenen Gäste angesichts dieses nüchternen Abgangs so recht begreifen, dass sie gerade an einem ganz besonderen Augenblick im Leben des Johannes Rau teilnehmen? Mit seiner „Berliner Rede“ zur multikulturellen Gesellschaft hat er es geschafft: 351 Tage nach der Wahl ist der Präsident nach langen Anlaufschwierigkeiten im Amt angekommen.

Rau hat bewusst auf ein Schlagwort verzichtet

„Zuwanderung ist stets beides: Belastung und Bereicherung“, hat er gerufen – es ist der Kernsatz seiner Ansprache. Zuwanderung löse immer auch starke Emotionen aus – „gute und weniger gute.“ Im Berliner Haus der Kulturen der Welt formuliert der Bundespräsident sein Credo eines multikulturellen Deutschlands (auch wenn er den Begriff mit Distanz gebraucht): „Dass Menschen unterschiedlicher Herkunft und Kultur in unserem Land zusammenleben, wird sich nicht mehr ändern.“ Zu lange hätten die Deutschen die Augen davor verschlossen, dass Zuwanderung praktische Folgen zeitige. Rau, der so lange gezögert hatte, die moralische Autorität seines Amtes hinter ein Anliegen zu stellen, traut sich jetzt einen Appell zu: „Wir brauchen eine neue Anstrengung für das Zusammenleben aller Menschen in Deutschland – ohne Angst und ohne Träumereien.“

Trotzdem er fast ein Jahr auf öffentliche Anerkennung warten musste, biedert sich Rau seinem Publikum nicht an. Das R-Wort, auf das viele so sehnsüchtig warten, hat er seinen Zuhörern versagt. Es gab kein Ruck-Wort in der Rau-Rede, keinen Spitznamen, den er künftig mittragen wird, wie es Amtsvorgänger Roman Herzog nach der sprichwörtlichen „Ruck-Rede“ widerfuhr.

Dass der neue Bundespräsident darauf verzichtet, dass er sich der schnellen Kategorisierung verweigert, war Absicht, sagen seine Berater. Dabei hätte seine Präsidentschaft ein Schlagwort ganz gut gebrauchen können. Bei der Planung der „Berliner Rede“ hatten seine Berater den 23. Mai dräuend vor Augen. An diesem Tag jährt sich die Wahl des Bundespräsidenten. Selbst ihm Wohlgesonnene mussten einräumen: Zu bilanzieren waren nur Anläufe, keine Höhenflüge.

Ins Amt gekommen, weil Gerhard Schröder ihm den Abgang als Ministerpräsident in Nordrhein-Westfalen schmackhaft machen wollte, war der erste Mann im Staat rasch zum obersten Buhmann geworden. Nichts wollte ihm glücken. In Israel sprach er immerhin als erstes deutsches Staatsoberhaupt in der Knesset – und dann auch noch auf Deutsch. Doch seine Israel-Reise fiel ausgerechnet in die einzige Phase des letzten Jahrzehnts, in der das Thema deutsche Vergangenheit in Deutschland kein Thema war: Die CDU-Affäre sog alles öffentliche Interesse auf. Er selbst konnte sich zu trüben Machenschaften der Parteien schlecht äußern, auch wenn er wohl die Flugaffäre in der alten Heimat NRW weitgehend unbeschadet überstehen wird.

Immer weniger Anlässe vermochten den Schatten zu vertreiben, der sich über das erste Jahr des Präsidenten legte – und manchmal wohl auch auf seine Seele. Freunden soll er die Fahne auf Schloss Bellevue mit den Worten gezeigt haben: „Die Leute sagen, wenn der Lappen draußen hängt, sind die Lumpen drinnen.“

Raus Rede war pastoralim besten Sinne

Mit seiner Rede hat Johannes Rau wahrscheinlich nichts weniger als seine Präsidentschaft gerettet. Roman Herzog hat sich mit einer einzigen bemerkenswerten Ansprache Respekt und Nachruhm gesichert. Ob Rau in dieser Republik weitere Spuren hinterlässt, hängt davon ab, ob er sich sein Geheimnis vom Freitag bewahren kann. Sein Auftritt war nicht deshalb so überzeugend, weil er als Person ein anderer geworden wäre. Vielmehr vermochte er alle Eigenschaften, die ihm zuvor oft und zu Recht angelastet wurden, zum Guten zu nutzen. Er war pastoral im besten Sinne, weil er die Furcht vor dem Fremden weder diffamierte noch denunzierte, wie es Linke so oft tun. Es helfe nichts, sagte er etwa, die Beschreibung von Ängsten und Problemen vieler Menschen bereits als Ausländerfeindlichkeit hinzustellen. Er war ganz Sozialdemokrat, als er warnte: „Im klimatisierten Auto multikulturelle Radioprogramme zu genießen, ist eine Sache. In der U-Bahn oder im Bus umgeben zu sein von Menschen, deren Sprache man nicht versteht, ist eine ganz andere.“ Und endlich einmal waren ihm seine Jahrzehnte als Realpolitiker nicht Hemmnis, sondern Hilfe. „Es ist nicht schwer, in wohlsituierten Vierteln eine ausländerfreundliche Gesinnung zu zeigen“, hat Rau beobachtet. Für ein multikulturelles Deutschland muss deshalb nicht nur Fremdenfeindlichkeit überwunden werden, meint der Präsident, sondern auch „falsch verstandene Ausländerfreundlichkeit“. Wie alt auch immer Johannes Rau wirken mag, als Multikulti-Präsident ist er für eine Überraschung gut.