Große Vision gegen kleine Zänkerei

Joschka Fischers Vorstellungen weisen in die Zukunft. Doch in der Gegenwart müssen erst einmal die anstehenden Reformen auf den Weg gebracht und der Nizza-Gipfel ein Erfolg werden

BRÜSSEL taz ■ Irgendwann in den letzten Wochen muss Jacques Chirac einen Albtraum gehabt haben: „Helmut! Hilf mir, mein Mantel der Geschichte ist zu kurz!“ – „Ich bin aber nicht mehr der deutsche Bundeskanzler, Tschack. Da musst du dich jetzt an Josef wenden oder an den Gerhard.“ Und genau das hat Jacques Chirac dann auch getan. Denn sein großer Auftritt beim Jahrtausendgipfel im Dezember in Nizza ist in Gefahr.

Außenminister Joschka Fischer und Kanzler Gerhard Schröder haben ein offenes Ohr für die Imageprobleme des französischen Staatspräsidenten. Schröder hat erkannt, dass mit dem britischen Premier Tony Blair kein europäischer Staat zu machen ist. Er wird bei einem Treffen mit Chirac und Jospin am 19. Mai die deutsch-französische Achse wiederbeleben. Und der deutsche Außenminister nutzt die Gelegenheit, mit seiner Vision eines souverän verfassten Europas auf die lähmenden Zänkereien um Mini-Reform und Erweiterung zu antworten.

Zunächst sah es so aus, als würde der Balkanschock den europäischen Regierungschefs so sehr in den Knochen stecken, dass den guten Vorsätzen Taten folgen könnten. Unter dem Leitmotiv „Nie wieder Sarajewo“ schien die Erweiterungsprozedur für die nächsten zwölf Kandidaten nur mehr eine Formsache, die Mitgliedschaft für die Türkei, ja sogar für Albanien, in greifbare Nähe gerückt. Für die Frage, wie die veralteten Strukturen der EU diesen Ansturm verkraften sollten, hatten die Visionäre nur ein verächtliches Achselzucken übrig: Wer wird denn angesichts historischer Herausforderungen kleinlich über die Details der EU-Reform streiten.

Inzwischen dümpelt das Boot wieder in flachen Gewässern. Sogar die Minimalreform, die lediglich die 1997 in Amsterdam unerledigt gebliebenen Punkte aufarbeiten sollte, steht auf der Kippe. Delegierte kleinerer Mitgliedsstaaten berichten nicht ohne Schadenfreude, dass die Grande Nation sich verrechnet haben könnte: Chirac habe bewusst wertvolle Verhandlungszeit verstreichen lassen, um sicherzustellen, dass die Einigung nicht unter portugiesischem sondern unter französischem Ratsvorsitz zu Stande kommt.

Inzwischen aber ist der Gipfel von Nizza nahe gerückt und die Gespräche stocken in allen drei auf der Tagesordnung stehenden Bereichen: Bei der Stimmengewichtung im Ministerrat, bei der Verteilung der Kommissarsposten auf die Mitgliedsländer und bei der Ausweitung der mit Mehrheit zu entscheidenden Politiken. Die fehlende Kompromissfähigkeit an allen Fronten ist nicht weiter erstaunlich, geht es doch letztlich um unterschiedliche Aspekte eines übergeordneten Verhandlungsziels: Die Übertragung nationaler Souveränität auf supranationale Gremien.

Lediglich bei der EU-Kommission zeichnet sich eine Einigung ab, die darin besteht, alles zu lassen wie es ist. Ein Land, ein Kommissar – das könnte bald schon eine zwanzig- oder dreißigköpfige Kommission bedeuten. Nur wie soll die EU mit so vielen Chefs handlungsfähig bleiben?

Dass die Stimmengewichtung im Rat stärker als bisher die Bevölkerungszahl der Mitgliedsländer widerspiegeln soll, befürworten alle Delegationen – theoretisch. Praktisch stellen sich diejenigen Länder quer, die dadurch Stimmen verlieren würden. Spanien zum Beispiel hat nur halb so viele Einwohner wie die Bundesrepublik, aber im Rat das gleiche Gewicht von zehn Stimmen. Nach einer Reform fände es sich auf gleicher Stufe mit dem Beitrittsland Polen.

Noch unnachgiebiger zeigen sich die Verhandlungspartner beim dritten Reformziel, der Ausweitung der Politikbereiche, die im Rat mehrheitlich entschieden werden können. Alle wissen, dass ein Rat von zwanzig oder dreißig EU-Ministern durch das Veto eines einzelnen blockiert wäre. Doch die Briten verlangen Einstimmigkeit bei der Steuer- und Sozialpolitik, die Spanier bei der Sozial- und Strukturpolitik, die Dänen bei der Sozialpolitik, alle Südländer bei der Umweltpolitik – der kleinste gemeinsame Nenner geht gegen null.

Kein Wunder, dass Jacques Chirac zunehmend von der Sorge geplagt wird, das rauschende Fest an der Cote d'Azur könnte platzen. So gesehen kommt ihm die Europavision des deutschen Außenministers überaus gelegen. In Nizza könnte der Startschuss für einen verfassunggebenden Konvent das kleinliche Gezänk um die Minireform vergessen machen. Und den stolzen Franzosen bliebe die Hoffnung, dass Chiracs Mantel der Geschichte lang genug ausfällt, um den blamablen „Vertrag von Nizza“ zu überdecken.   DANIELA WEINGÄRTNER