SCHEIBENGERICHT: NEUE KLASSIKALBEN KURZ BESPROCHEN VON BJÖRN GOTTSTEIN
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Schrammeln

Francesco Guerrero: Zayin. Arditti String Quartet. (Almaviva DS-0127)

Wer Schrammeln bislang für eine Ausdruckskategorie des Noisepop gehalten hat, lässt sich gerne vom Musikhistoriker belehren: Der Begriff geht auf die Wiener Brüder Schrammeln zurück, die mit zwei Violinen, begleitet von Klarinette und Gitarre, die Kaffeehausmusik des 19. Jahrhunderts um eine populäre Besetzungsvariante bereicherten. Mit dem plärrenden Gitarrensound der Achtziger hat das zunächst wenig zu tun. Aber während das Wiener Schrammelquartett in der klassischen Musik heute obsolet geworden ist, gedeiht das Schrammeln als geräuschlastige Spieltechnik jetzt zu neuem Ruhm.

In der Ersteinspielung des Zyklus‘ „Zayin“ von Francesco Guerrero kommt die Strichtechnik des Arditti String Quartets dem Zersägen der Instrumente erschreckend nahe. Die vier Musiker drängen ungehemmt auf die ungeschönte Oberfläche grobkörnigen Schmirgelpapiers. Das Erstaunlichste an dieser CD ist wohl, dass die herbe Virtuosität, die das Quartett zur Schau stellt, auf einem diffizilen Kompositionsverfahren beruht. Im Gegensatz zu den meisten anderen Komponisten der Nach-Franco-Generation verzichtet Guerrero auf Charakteristika der spanischen Kultur, auf die verblassende Exotik Spaniens, auf den Flamenco und auf das sanfte Nachbeben der arabischen Herrschaft.

Grundlage des Werks ist stattdessen die Siebenzahl (hebräisch: „Zayin“). Zwischen dem ersten und dem siebten Satz liegen vierzehn Jahre, in denen der spanische Komponist unterschiedlichste Zahlenkonzepte entwickelt hat: von der Kombinatorik bis zur fraktalen Geometrie. Dass das Werk nicht auseinander bricht, liegt vor allem an der Konsistenz des Materials: Akkordblöcke, Triller und Glissandi bilden den Fundus des gesamten Zyklus‘

Rechenops

Ruth Crawford Seeger: Chamber Works. Ensemble Aventure, Pellegrini Quartett. (cpo 999 670-2)

Guerrero steht mit dieser Haltung nicht allein. Der Verzicht auf musikalische Nationalismen geht oft genug mit einer gewissen Zahlenfixiertheit einher. Das gilt auch für die amerikanische Moderne, die Ende der Zwanzigerjahre versuchte, die europäische Tradition zu überwinden, ohne auf amerikatümelnde Wendungen auszuweichen.

Dazu gehörten Henry Cowell, Carl Ruggles, aber auch Ruth Crawford Seeger. Dass Seeger über ihren männlichen Kollegen in Vergessenheit geriet, liegt weniger an ihrem Geschlecht als an ihrem schmalen Oeuvre. Bei ihr ist es fast unmöglich, den Zusammenhang zwischen ökonomischem Paradigma und künstlerischer Produktion aus den Augen zu verlieren. Ja, er ist so deutlich, dass wahrscheinlich sogar der Umkehrschluss vom Notentext auf die Weltwirtschaftskrise möglich ist.

Vor dem Hintergrund der sozialen Verelendung zu Beginn der Dreißigerjahre konnte die Komponistin dem Konzept elitären Fortschritts nur noch wenig abgewinnen. Ihre junge Komponistenkarriere endete 1932: Seeger widmete sich fortan der Musikpädagogik und dem amerikanischen Volkslied. Seit wenigen Jahren werden die vor dieser Zäsur vollendeten Partituren systematisch nachbereitet. Nachdem das Schönberg-Ensemble bereits 1997 ein CD-Porträt vorgelegt hat, ergänzen das Ensemble Aventure und das Pellegrini Quartett den Katalog jetzt um ein zweites sattes musikalisches Konterfei.

Diese Werke gelten heute vor allem deswegen als progressiv, weil Seeger schon früh auf die Musikalität von Rechenoperationen vertraute. Viele ihrer Werke nähern sich folgerichtig dem kühlen Ton des seriellen Pointillismus – was insbesondere für die Behandlung der Bläser gilt. Die Musiker des Ensemble Aventure begegnen dieser Schärfe mit einem zurückgelehnten, auf die Wärme des Holzes vertrauenden Ton. Überzeugend, und wirklich umwerfend, schreibt Seegers dort, wo sie die als romantisch verpönten Streicher in den klingenden Vordergrund verweist.

Im Streichquartett (1931) und in der Suite für Klavierquintett (1929) gelingt es ihr, Sachlichkeit und Ausdruck aufs Engste zu verschmelzen. Die Musiker nehmen diesen Faden dankbar auf.

Progressivität

Dmitri Schostakowitsch: Streichquartette. Emerson Quartet. (Deutsche Grammophon 463 284-2)

Im Gegensatz zur Antiromantik der ersten Jahrhunderthälfte verbindet man mit dem bloßen Einsatz von Streichern heute keine konservative Pose mehr. Stattdessen ist die Frage der interpretatorischen Haltung von Streicherensembles längst zum Politikum avanciert. Auf der einen Seite steht das Alban Berg Quartett, das mit behäbigem Schmalz und zu satter Restauration aufspielt.

Zum progressiven Gegenlager zählt das Emerson Quartet. Dieses Quartett versteht es, den Notentext am Instrument zerschellen zu lassen und den Klang gegen die Faktur auszuspielen. Alles richtet sich auf ein dichtes hermetisches Gebilde, das dem klassischen Ideal beredter Vierstimmigkeit entgegenwirkt. Das Emerson Quartet hat jetzt eine Gesamteinspielung der Streichquartette von Dmitri Schostakowitsch vorgelegt. Mit dem 1938 entstandenen ersten Quartett nimmt man den Faden einer musikalischen Biografie auf: Die frühen Stücke entstanden unter einem rigoros durchgesetztem sowjet-ästhetischen Dogma. Vorzeichenarme, also schlicht klingende Tonarten sorgen für ein beinah verwerfliches Maß an Verständlichkeit.

Erst mit den mittleren Quartetten ist Schostakowitschs Gattungsidiomatik voll ausgebildet. Den Höhepunkt des Zyklus bildet zweifellos die politisch-religiöse Versenkung des achten Quartetts („Den Opfern des Faschismus“). Je tiefer Schostakowitsch – von Stück zu Stück – in den schwelgerischen Schmelz des Streichquartettklangs eindringt, desto mehr gewinnt das Zusammenspiel des Emerson Quartet an Kontur.

Zunächst sind es nur einzelne Sätze, die Nuancen zwischen säuselndem Flageolett und schnarrendem Glissando zulassen. Da schimmert das Emerson Quartet im matten Glanz frisch aufgebürsteten Samts. In den letzten vier Werken schließlich geht jeder Ton in motivischer Verworrenheit und bester tonaler Orientierungslosigkeit unter. Jetzt kommt der Komponist bezeichnenderweise nicht mit weniger als sechs Vorzeichen aus. Schostakowitsch drängt dabei auf eine eigenwillige und exaltierte, wenn auch verspätete Moderne, die beim Emerson Quartet bestens aufgehoben ist.

Extase

Salvatore Sciarrino: Infinito nero. Ensemble Recherche. (Kairos 0012022KAI)

Unabhängig davon, was man als unabdingbares Merkmal von Modernität gelten lassen möchte, der Verzicht auf verständliche Rede zählt noch immer zu den deutlichsten Kennzeichen. Und während der spätmoderne Schostakowitsch sich in schwerfälligem Taumel verlor, richtet der italienische Komponist Salvatore Sciarrino sein Interesse auf den Artikulationsmodus Extase.

Die Wortsalven der Mystikerin Maria Maddalena de' Pazzi (um 1600) schossen nach langen Phasen des Schweigens unkontrolliert aus ihr heraus. Diese beiden Extreme, das Schweigen und der ungehemmte Wortfluss, bilden die Grundlage der Komposition „Infinito nero“. Immer wieder lässt kaum zu hörendes instrumentales Hauchen und unterschwelliges Klappenklappern fragen, ob da überhaupt Zeit musikalisch gestaltet wird. Im Gegenzug brechen musikalische Plosive, Salven ähnlich und beängstigend, über den Hörer herein – das Manische und das Depressive als Blaupause musikalischer Form. Ergänzt wird das Repertoire der CD von vier Arrangements: Sciarrino hat kurze Stücke von Carlo Gesualdo di Vanitas in die Partitur geschrieben.

Hier blättert die lädierte Renaissancefarbe: im brüchigen Flageolett, im unterblasenen Pianissimo, im schleifenden Glissando, ohne dass dieser modernisierenden Restauration der Blick für die ursprüngliche Gestalt der Werke verloren ginge. Dass diese vier Arrangements von Briefen Tarquato Tassos unterbrochen werden, scheint überflüssig, zeugt aber von dem Willen, Crossover auch für die Hochkultur fruchtbar zu machen.

Crossover I

Robert Schumann/Uri Caine: A Poet's Love. La Gaia Scienza, Uri Caine Ensemble. (edel 910 049-2)

Mit Klassik und Crossover verhält es sich wie mit Pech und Schwefel: Beide können durchaus nützliche Dinge sein. Der genreüberschreitende Umgang mit klassischem Material verlangt Umsicht. Er muss einer unprätentiösen Haltung entspringen. Er sollte sich bereitwillig von philologischem Geist befrieden lassen. Und er erfordert ein Gespür für den Kontext, der die Musik bettet, ohne ihre Substanz zu zerstören. Uri Caine ist einer der wenigen, die über diese Qualitäten verfügen. In seinen Bearbeitungen streckten Gustav Mahler und Richard Wagner die Fühler aus, nach dem Caféhaus, dem Klezmer, nach improvisierter und elektronischer Musik. Jetzt hat Caine Robert Schumanns Liederzyklus „Eine Dichterliebe“ in seinen Materialfundus aufgenommen. Dem Uri Caine Ensemble geht es hier vor allem darum, den Swing aus den Heine-Vertonungen zu kitzeln. Robert Schumann war – das wird gerne übersehen – ein Meister der Hookline. Dabei kehren die Musiker den jeweiligen Gestus der sechzehn Lieder vordergründig heraus. Ein geschmackvoll eingerichetes Steel-Gitarren-Arrangement untermalt Trauer. Der düster grummelnde David Moss und ein verzerrt aufspielender David Gilmore signalisieren Wut.

Diese plakative Überzeichnung geht allerdings auf Kosten der Vorlage: Von der weitläufig gesponnenen Erzählung einer hoffenden, enttäuschten und schließlich versöhnten Liebe bleibt am Ende wenig übrig. Man sieht sich vor einen Katalog musikalischer Kunstfertigkeit gestellt, der sich wiederholt in selbstverliebtem Muckertum verliert und der alles vermissen lässt, was man vor wenigen Zeilen noch an Lob für Uri Caine lesen konnte.

Crossover II

Enrique Granados: Goyescas. Douglas Riva. (Naxos 8.554403)

Dass Uri Caines Versuch, das Kunstlied als Song zu trivialisieren, gescheitert ist, ist keine große Panne. Den umgekehrten Fehlschlag hat es genauso häufig gegeben. Das Problem ist allerdings ein relativ junges: Noch zur vergangenen Jahrhundertwende lag die Produktionsästhetik von „E“ und „U“ eng beieinander. Zu den glücklichsten Verbindungen zwischen Konzertsaal und Salon gehört die Erfahrung des eigenen spanischen Tons durch Komponisten wie Manuel de Falla, Isaac Albéniz und Enrique Granados.

Granados' Klavierzyklus „Goyescas“ überführt die Rhythmizität des Fandangos in die weitschweifende Harmonik des frühen 20. Jahrhunderts. Pianist Douglas Riva greift den tänzerischen Duktus in vorliegender Aufnahme willig auf. Sein figuratives Spiel perlt jenseits der gängigen Metren, ja gleitet bisweilen ins rhythmisch Diffuse ab.

Den sieben Sätzen der Suite legte Granados Bilder von Francisco Goya zu Grunde. Dessen dunkle Töne und verwaschene Konturen trüben diese Musik bis ins Sentimentalische. Schwächen offenbaren diese Stücke allein im Bereich der Form. Das intuitive Vorwärtstasten des Komponisten, der im Zweifelsfall zur Wiederholung greift, kann auch Rivas flexibles Spiel nicht kaschieren. Aber klassische Formvollendung wäre wohl zunächst auf Kosten der spanischen Idiomatik gegangen. Mit einigen Rechenoperationen hätten diese Stücke wohl um einiges aufgeräumter geklungen – aber gerade darauf verzichtet man in diesem Falle gerne.