Megafusion des Flachsinns

Der Wahlkampf in Nordrhein-Westfalen kam ohne ernsthafte Debatten aus. Voll im Trend liegt stattdessen der Turbo-Populismus der „Ganz Neuen Mitte“. Garantiert politikfrei
von RUDOLF WALTHER

Gunda Röstel nach der Niederlage: „Ich bin nicht unoptimistisch.“

Nordrhein-Westfalen ist ein ebenso fruchtbares wie gefürchtetes Reservoir von „Riesenstaatsmännern“ und „Riesenstaatsfrauen“. Das gilt nicht nur für Jürgen Möllemann, den F. J. Strauß einmal so nannte, sondern auch für Jürgen Rüttgers, Laurenz Meyer, Antje Vollmer, Reiner Priggen, Michael Vesper, Bodo Hombach, Franz Müntefering, Guido Westerwelle und viele andere. Nordrhein-Westfalen ist auch „das Land der unbegrenzten Zumutbarkeiten“ (Ulrich Sonnemann), seit der erste Ministerpräsident Karl Arnold (1947 – 1956) den „Arnold-Schlüssel“ erfand. Damit meint man die Politik der Zähmung der Opposition, indem man diese nicht ganz von der Macht ausschließt, sondern mit Ämtern, Pfründen und Mandaten ausstattet. FlächendeckendeVerfilzung und Verschleimung durch korrumpierende Umarmung.

Wolfgang Clement und Jürgen Rüttgers haben in ihren Wahlkampfreden fortgesetzt, was man mit etwas Fantasie schon in der Essener Antrittsrede des kurzfristig als Schatzmeister ausgeliehenen Bankers Ulrich Cartellieri heraushören konnte: die Vollendung des „Arnold-Schlüssels“. Rüttgers zog volkstümelnd-volksnah durchs Land, und Clement steuerte einen intellektuell herausragenden Beitrag zu den „sozialdemokratischen Grundwerten“ bei: Er setzte „Gerechtigkeit“ mit „Wirtschaftswachstum“ gleich, um die SPD für alles anschlussfähig machen, was die Wechselfälle der „globalen Wirtschaft“, der Machterhalt der Schröder-SPD und die Vernichtung der „Grünen“ als politische Kraft verlangen.

Schemenhaft erkennbar werden die zarten Konturen einer ganz großen Vereinfachung, die wirklich voll im Trend der Zeiten liegt: den big merger mit Finalität, wie man in Joschka Fischers Besinnungsaufsatztruppe heute sagt – also eine Megafusion von CDU und SPD zur GNM („Ganz Neue Mitte“). Die hätte garantiert eine stabile Mehrheit und müsste sich nicht mit Ansprüchen vom rechten, vom grünen und vom roten Rand herumschlagen oder gar über richtige Reformen nachdenken. Insofern ist der entsetzlich positive Fritz Kuhn (Markenzeichen Komparativ: „offensiver“, „positiver“) ein Auslaufmodell, bevor er gewählt werden wird. Was der Stuttgarter bietet, verkauft der Fallschirmspringer aus Münster billiger: kapitalfreundlich gestriegelten Sozio-Öko-Turbo-Populismus.

Die Wahlkampfthemen lieferten einen Vorgeschmack dafür, was abgehen wird, wenn die zusammengehörenden Mittleren aus allen Parteien zur GNM zusammenwuchern: Jürgen Rüttgers scheiterte mit seinem peinlichen Versuch, eine ähnlich chauvinistische Kampagne zu wiederholen wie jene, mit der Roland Koch 1998 in Hessen – dank Schwarzgeldern aus Schweizer Konten – Erfolg hatte. Angeblich debattierte man in Nordrhein-Westfalen über die Bildungspolitik und „die Wissensgesellschaft zum Anfassen“ (Jürgen Rüttgers), aber das ging schnell unter in der Postkartenkampagne gegen Ausländer und im feinsinnigen Slogan „Freie Fahrt statt Dauerstau“. Derlei Sprüche überbietet Möllemann spielend. „Rot-Grün staut, Mölli baut“, wenn es sein muss, auch einen zehnspurigen Tunnel quer durchs Ruhrgebiet.

Clement zeigte „Führungskraft“, schickte die Kelly-Familie an die Front, und die mobilisierte damit in Duisburg 20.000 Zuhörer. Der Ministerpräsident selbst gewann in Herford ein Kampftrinken gegen 24 Jugendliche souverän, getreu seinem Wahlkampfslogan: „weil er es kann“. Sonst hielt sich die SPD an Münteferings Devise „Arbeit am einzelnen Mann“ und appellierte an die Traditionskohorten im Ruhrgebiet mit dem Telefon. So läuft sozialdemokratische „Politik“ – mittig und politikfrei. Michael Vester von den „Grünen“ („ich bin mit mir im Reinen“) berichtete öffentlich über die Geschäftsgrundlage und den Leim der rot-grünen Koalition in Düsseldorf: was Bärbel Höhn und andere zerdeppern, müsse er mit Clement, Grappa und Rotwein immer wieder flicken. Die ultimative Ratio für die Koalition, die Möllemann sprengen möchte, lieferte Gunda Röstel: „Es gibt keinen Grund“ (Augenaufschlag), „mitten in einem Partnerrennen“ (Augenaufschlag) die Pferde zu wechseln“ (Augenaufschlag). Als das die Wahlkampfrösser in den SPD-Ställen in Düsseldorf und Berlin hörten, brachen sie in nachhaltiges Wiehern aus.

Das Wahlergebnis überraschte. Frau Anita Drögemöller aus dem Essener Milieu – die schlagfertige Heldin in einem Roman von Jürgen Lodemann – hätte die Sache etwa so kommentiert: „Da! Kucken Se sich die Bescherung an! Is dattänne Aat?“ Müntefering lässt telefonisch mobilisieren, aber es kommen gerade so viele Wähler wie schon 1966. 34 Jahre Erfolgsgeschichte der SPD! Die grünen Amtsverwalter Vesper, Appel, Höhn und Prigge schwören auf die „Außendarstellung“, aber fast ein Drittel der Wähler wollen nicht mehr glauben, was die vortragen und hinterher zum „soliden Ergebnis“ (Antje Vollmer) flachreden. Rüttgers und die Seinen kriegten vor acht Monaten bei den Kommunalwahlen noch 50,3 Prozent der Stimmen und fühlten sich damals auch als „Gewinner“.

Die Kommunalwahl hatte jedoch nicht die CDU, sondern der Genosse Trend – die stärkste der Parteien im Land – gewonnen. Und dieser Genosse hieß damals schon wie heute: Herr und Frau Nichtmehrwähler – runde 43 Prozent stark ist die Truppe, das sind rund sechs Millionen Menschen. Mit diesem robusten Genossen kann man nicht das Nürnberger Arbeitslosenzahlenspiel betreiben – gehen die Zahlen hoch, war das Wetter daran schuld, gehen sie runter, gilt das Gleiche –, denn der Trend zum Nichtwählen wächst wetterunabhängig. Nichtwähler sind ein Spitzenprodukt der GNM-„Politik“, deren Vorbild in den Vereinigten Staaten zu besichtigen ist, wo der Präsidentenjob mit ausreichend Kleingeld und den Stimmen von gut 20 Prozent der Wahlberechtigten zu kriegen ist (vonWahl„beteiligung“ reden da nur noch Ahnungslose).

Beim Deutschland-Fan Jörg Immendorff, dem malenden Ex-Maoisten und Männerfreund Möllemanns, muss Freude aufgekommen sein wie bei den vielen jungen Leuten, die dem „Lümmel-Tandem“ Westerwelle-Möllemann (Süddeutsche Zeitung, 9. 5. 00) ihre Stimme gaben, weil sie die Staus auf den Autobahnen für eine rot-grüne Schikane und Möllemanns Gags für „krass geil“ halten. Möllemann ein Wahlsieger? „Man wird allerdings das unangenehme Gefühl nicht los, dass sich die deutsche Wählerschaft mittlerweile mit sehr wenig zufrieden gibt“, nett gesagt von der Neuen Zürcher Zeitung (15. 5. 00). Dem Fallschirmclown hilft der Glückstreffer zunächst nicht viel. Clement profitiert davon – beim „zügigen Verhandeln“ mit den Grünen, das mehr einem Diktieren gleichen wird. Der Nochvorsitzende der Bundes-FDP befindet sich im freien Fall, und Parteifreund Westerwelle fummelt schon an Gerhardts Fallschirm herum. Die Grünen dürfen sich auf Annäherungsversuche seitens der CDU einrichten. Aber für zwei Möllemann-Westerwelle-Parteien gibt es keinen Bedarf.

Rudolf Walther lebt als freier Journalist in Frankfurt am Main und schreibt regelmäßig für die „Zeit“, die „Frankfurter Rundschau“ und die taz. Zuletzt erschien auf der Meinungsseite eine kritische Analyse der Wahlen in Scheswig-Holstein.

Hinweise:Der entsetzlich positive Fritz Kuhn ist ein Auslaufmodell – noch vor seiner WahlGewonnen hat Genosse Trend. Er heißt: Herr und Frau Nichtmehrwähler