FISCHER SCHLÄGT EIN „GRAVITATIONSZENTRUM“ FÜR EUROPA VOR
: Eine Idee mit Tücken

Joschka Fischer hat öffentlich nachgedacht. Das gehört zu seinem Beruf. Diesmal aber legt er Wert auf die Feststellung, dass seine Überlegungen nicht dem Außenminister, sondern dem Privatmann Fischer anzulasten seien. Bedenkt man die wohlwollende bis begeisterte Zustimmung zu seinem Vorschlag, ein Gravitationszentrum innerhalb der Europäischen Union zu schaffen, scheint diese Vorsicht im Nachhinein wenig nachvollziehbar.

Sie ist aber bildhafter Ausdruck einer Schizophrenie, die sich durch Fischers gesamte Euro-Strategie zieht: der private Denker gegen den Außenminister, der Befürworter eines Zwei-Klassen-Europa gegen den Prediger für Frieden durch Integration. Immerhin sucht der Privatmann Fischer eine Antwort auf die zentrale Frage, die der Außenminister seit Monaten geschickt und beharrlich umgeht: Wie sollen die zwei konkurrierenden Ziele der EU-Politik – Erweiterung und Vertiefung der Gemeinschaft – in Einklang gebracht werden?

Die Europapolitiker sind sehr viel seltener, als Leitartikel dies vermuten lassen, mit der Vision eines vertieften Europa beschäftigt. Sie stolpern meist schon über eine ganz praktische Frage: Wie soll der derzeitige Integrationsstand erhalten bleiben, wenn 12 weitere Mitglieder in die Union aufgenommen werden?

Wie kann ein Europa der 21 oder gar 29 Mitglieder Entscheidungen treffen? Soll der Ministerrat das Heysel-Stadion buchen, um Platz für die dann nötigen Übersetzerkabinen zu schaffen? Soll das Parlament seinen Wanderzirkus zwischen Brüssel, Luxemburg und Straßburg aufrechterhalten und dabei alle Dolmetscher, Assistenten und Arbeitsunterlagen mitführen, die leicht ebenfalls das Heysel-Stadion füllen könnten?

Ganz zu schweigen von anderen kniffligen Fragen, für die eine Lösung nicht in Sicht ist: Wie sollen sich 30 Kommissare sinnvoll beschäftigen und für eine effektive Verteilung der EU-Subventionen sorgen? Wie soll der Rat – jetzt schon zu einem rituellen Medienereignis erstarrt – mit noch mehr Mitgliedern wieder zu einem effektiven Arbeitsgremium werden? Wie sollen die Bürger überzeugt werden, sich für dieses Europakonzept zu begeistern?

Durch einsames Nachdenken scheint der Privatmann Fischer eine verblüffend einfache Antwort gefunden zu haben: Statt des lähmenden Entweder-oder fordert er schlicht ein Sowohl-als-auch. Erweiterung und Vertiefung, Europa à la carte je nach Integrationsbedürfnis des jeweiligen Mitgliedslandes. Kein „Kerneuropa“, das sich gegen Mitglieder zweiter Klasse abschottet, sondern ein Gravitationszentrum, das allen offen steht.

Der Vorschlag des Privatmannes tröstet alle, denen die Vision des Außenministers unheimlich zu werden begann. Kosovo, Türkei, Albanien – seit Fischers gestrigem Spiegel-Interview wissen wir, dass er mittelfristig auch Nordkorea und den Irak durch Integration zu zähmen gedenkt. Wer mitspielen darf, lasse das Sabotieren sein und mache das in Washington geplante nationale Raketenabwehrsystem überflüssig. Wenig wahrscheinlich, dass Fischers „präventive Ansätze“ die Freunde in Washington überzeugen werden.

Wenig wahrscheinlich auch, dass das „Gravitationszentrum“ seine Anziehungskraft behält, wenn jedes EU-Land selbst bestimmen darf, ob es dazugehören will. So erweist sich das so verblüffend einleuchtende Modell bei näherer Betrachtung als störanfällig: Wie kann verhindert werden, dass sich gerade jene Länder zum harten Kern zählen, die kulturell, wirtschaftlich und politisch an der Peripherie der EU anzusiedeln sind? Neue Konvergenzkriterien würden gebraucht. Sie waren schon für die Euro-Zone schwer aufzustellen – für den Grad der politischen Integration dürften objektivierbare Größen kaum zu finden sein.

Zwei praktische Hinweise aus Fischers Denkstube könnten sich dagegen als fruchtbar für die Debatte um Europas Zukunft erweisen: die Direktwahl des Kommissionspräsidenten und der Vorschlag, eine zweite Parlamentskammer aus nationalen Abgeordneten zu schaffen. Eine solche Konstruktion würde Europa seinen Bürgern näher bringen und die ständig geforderte Arbeitsteilung zwischen nationaler und europäischer Ebene institutionalisieren. Es muss ja nicht über jede Traktor-DIN-Norm in Brüssel entschieden werden. Vielleicht sollte die EU schon mal anfangen, ein zweites Heysel-Stadion zu bauen. Für die Dolmetscher der zweiten Kammer. DANIELA WEINGÄRTNER