„Serbien ist keine Nachricht mehr wert“

E-Mail aus Belgrad: Die serbische Studentin Andjela über die Resignation der jungen Oppositionellen in Jugoslawien

BELGRAD im Mai Was glauben Sie, wie sehr kann sich das Leben eines Menschen innerhalb eines einzigen Jahres verändern? Oder noch besser: Wie sehr kann sich ein Land innerhalb eines einzigen Jahres verändern? Ein bisschen vielleicht? Aber im Grunde eigentlich gar nicht. So läuft es in der richtigen Welt. Die Dinge verändern sich allmählich, wir altern allmählich; bestimmte Ereignisse begreifen wir oft erst dann, wenn wir auf sie zurückblicken – und manchmal tun wir das gern, manchmal aber macht uns das auch traurig. So läuft es in der richtigen Welt.

Aber hier ist Serbien. Das virtuelle Leben. Das Niemandsland, das nur noch in den Fernsehnachrichten existiert. Oder vielleicht nicht mal mehr da. Serbien ist keine Nachricht mehr wert. Dabei ist es nicht mal so, dass niemand mehr da wäre. Nein, es will einfach niemand mehr hinhören.

Es mag unwahrscheinlich klingen, aber im Moment geht es mir deutlich schlechter als während der Bombardierungen, mein Leben erscheint mir immer sinnloser. Es ist wieder Frühling, und noch immer lebe ich hier in Serbien. Aber jetzt gibt es nicht mal mehr Hoffnung. Wir sind auf brutale Weise dem Tyrannen ausgeliefert, und seine Rache war unerbittlich. Alles, was vorher noch auszuhalten war, ist heute vollkommen unerträglich, es gibt keinen einzigen Hoffnungsschimmer am Horizont, jegliche Vorstellung von Freiheit, selbst die Illusion von Freiheit ist uns genommen worden. Hinzu kommt, dass praktisch jede Form des Widerstands müßig ist.

Bestimmt haben Sie mitbekommen, dass es vor einiger Zeit in der Belgrader Innenstadt einen riesigen Aufmarsch der Opposition gab. Eine halbe Million Menschen sollen es gewesen sein. Serbien hat eine Zukunft, hieß es. Wir werden endlich siegen, sagen sie. Aber nur ein Idiot würde ihnen glauben. Sie dürfen allerdings nicht denken, ich sei nicht hingegangen – ich habe eine moralische Verpflichtung, meinen Protest kundzutun, egal wie. Die Menge bestand aus einsamen, verzweifelten Menschen, die ein letztes Mal noch nach Atem zu ringen schienen. Die Anführer der Opposition tauschten säuerliche Blicke aus. Sie hassen einander fast so sehr, wie sie den Tyrannen hassen. Logischerweise riefen sie genau die richtigen Dinge in die Menge, all das, was die Leute hören wollen. Drašković, der Mann, der um ein Haar bei einem Anschlag getötet worden wäre, der seinen Bruder, der neben ihm im Auto saß, jedoch das Leben kostete. Bestien! Mörder!, schreit er jetzt in die Fahnen schwenkende Menge. Er tut so, als überrasche es ihn, dass es Menschen geben kann, die ihm den Tod wünschen. Was hat er denn erwartet?

Djindjić weiß es besser. Hinter seinem erstarrten Lächeln liegt große politische Bedachtsamkeit. Er redet kaum über das Kosovo. Er übergeht die Frage, ob Radovan Karadžić ein Kriegsverbrecher sei. Er weiß nämlich sehr wohl, dass er die Hälfte seiner Wähler los wäre, würde er die Wahrheit sagen.

Während des Aufmarschs, inmitten der beinahe gleich lautenden, öden Reden der verschiedenen Parteivorsitzenden, ergreift ein Student mit einem Rucksack auf dem Rücken das Mikrofon und richtet das Wort an die Menge: Es ist ein Schrei nach Leben. Er und ein Dutzend Gleichgesinnter haben die 100 Kilometer aus Novi Sad bis nach Belgrad zu Fuß zurückgelegt, mit einem riesigen Schild, auf dem eine geballte Faust auf schwarzem Untergrund abgebildet war. OTPOR! (Widerstand) ist eine halblegale Studentenbewegung ohne hierarchische Strukturen, die sich als Untergrundorganisation versteht und sich überall dort einmischt, wo die Polizei gerade abwesend ist. Diese Leute erinnern mich immer an die Figuren aus Cyberpunk-Comics, die die Welt vor einem drohenden Großen Bruder retten wollen. Nur mit dem Unterschied, dass dieser Comic für uns Realität ist. Wer auch immer als Nächstes an die Macht komme, hieß es, müsse sich darauf gefasst machen, auf erbitterten Widerstand zu stoßen, sollte er die Prinzipien der Kämpfenden veruntreuen. Diesen Teil der Rede hat der Fernsehsender Studio B am darauf folgenden Tag komplett aus der Übertragung der Demonstration herausgeschnitten.

Daher wäre es überaus zynisch, zu behaupten, es gäbe keinerlei Zukunft für Serbien. Aber die Aussichten auf das, was an einem krebszerfressenen Körper noch gesund ist, sind nicht gerade rosig. Es ist ein furchtbares Dilemma: Entweder man bleibt hier und versucht, gemeinsam mit einer Bande halsbrecherischer Revolutionäre den Verfall aufzuhalten, oder aber man nimmt die Beine in die Hand, solange es noch geht. Falls das überhaupt noch geht. ANDJELA