Gesellschaft der Desorientierten

Vor einem Jahr schilderte die serbische Studentin Andjela in der taz ihre Kriegseindrücke. Damals war sie hoffnungsvoller als heute

von ALBERT LINK

„Belgrad“, tippt Andjela zu Beginn der Nato-Luftangriffe vor einem Jahr in den alten Computer ihres Vaters, und irgendwo aus der Ferne sind Detonationen zu hören, „Belgrad stand noch nie im Verdacht, zu den schönsten Städten Europas zu zählen: zu viel Dreck in den Straßen, überbevölkert mit seinen fast zwei Millionen Menschen, von denen die meisten in Plattenbauten hausen müssen.“ Dennoch bleibt es ihre Heimat, „die Stadt, in der ich geboren und groß geworden bin. Hier wollte ich mein Leben verbringen.“

„Was dieser Mann uns allenangetan hat, ist unverzeihlich“

Heute? Nein, heute nicht mehr. Am liebsten würde die 25-jährige Anglistikstudentin die Stadt sofort verlassen. Über zwölf Jahre hinweg sei die Gesellschaft, die sie umgibt, durch Perversion moralischer und kultureller Werte „zerstört“ worden: „Serbien ist jetzt meine Vorstellung von Hölle. Ich gelobe feierlich: Falls ich ihr jemals entkomme, werde ich immer schön brav sein – nicht, dass ich nach meinem Tod hierher zurückgeschickt werde.“ Kaum etwas hat sich an der Situation der Regimegegnerin verbessert, seit sie im letzten Jahr in sehr persönli-chen, von der taz veröffentlichten E-Mails ihre Kriegseindrücke geschildert hatte. Damals wie heute sah sie sich als Opfer von Milošević: „Was dieser Mann uns allen, Serben wie Albanern, angetan hat, ist unverzeihlich.“ Nach dem Ende der Bombardierungen sei es noch weiter bergab gegangen: „Meine Freunde und ich gehen kaum noch aus dem Haus.“

Popsongs zu interpretieren, sich über Britpop-CDs die Köpfe heiß zu reden, das war mal ihre Vorstellung vom Glück – damals, als das kleine Musikmagazin, für das sie jobbte, noch nicht vor den Papierpreisen für nichtstaatliche Medien kapituliert hatte. „Weißt du noch?“, stand kürzlich in einer ihrer E-Mails: „Alles, was ich jemals wollte, war, über Rock ’n’ Roll zu schreiben.“

Erzählt hatte sie uns diesen Traum vor fast fünf Jahren. Es war gegen Ende des Bosnien-Krieges, als den Jugendlichen in Serbien langsam dämmerte, welches Image sie im Ausland hatten: Überall, wo Bilder aus Sarajevo über den Bildschirm geflimmert waren, verband man mit „den“ Serben nur noch Mörder und Heckenschützen, die feigen, brutalen Belagerer der bosnischen Hauptstadt. Als ob diejenigen etwas dafür konnten, denen Milošević mit seiner Kriegstreiberei die Jugend gestohlen hatte. Kein Lied sangen die 15- bis 20-Jährigen in den Belgrader Klubs damals lauter, trotziger und zorniger mit als den Cranberries-Hit „Zombie“: „But you see, it’s not me, it’s not my family, in your head, in your head, they are fighting.“

Im November 1996 traute sich die Protestgeneration erstmals aus dem Untergrund: Als das sozialistische Regime einen Wahlerfolg der Opposition nicht anerkennen wollte, kam es zu Massenkundgebungen und spontanen „Spaziergängen“ streikender Studenten. „Students against the machine“ hieß ihr Motto, sie trugen eine Milošević-Puppe in Sträflingskleidung durch die Straßen, und während der TV-Nachrichten bliesen Tausende in ihre Trillerpfeifen, um die „Lügen des Staatsfernsehens“ zu übertönen. Andjela mittendrin. Auf dem Schild, das sie Abend für Abend durch die Altstadt trug, stand ein Zitat des englischen Dichters Percy Shelley: „Oh wind, if winter comes, can spring be far behind?“

Konfrontiert man sie heute mit dieser Frage, reagiert Andjela empfindlich: „Ich wünschte, ich könnte euren Optimismus noch teilen.“ Einen Belgrader „Vorfrühling“, wie ihn so mancher Beobachter wittert, kann sie beim besten Willen nicht erkennen. „Es gab hier zu viele Winter in Serbien ohne Frühling danach.“

Worauf sie anspielt, ist die Entwicklung nach dem Ende der Studentenproteste: Die Wirtschaft ging endgültig zu Boden, Geld hatten nur noch Kriminelle und Kriegsgewinnler. Es war die Zeit, in der man ab und an weggeworfene Babys in Mülltonnen fand.

„Erwarte stets das Schlimmste, dann kannst du nie enttäuscht werden“

Wir saßen im „Café Plato“, gleich neben der philosophischen Fakultät. Andjela rauchte, nervös wie immer, und erzählte von einem Buch mit dem Titel „Im Unterdeck“, in dem der junge Autor Vladimir Arsenijević die Stimmungslage in Serbien auf den Punkt bringe: „Belgrad ist die Stadt, wo so viele aufgeben, weil sie nicht die Waffen zum Kampf gegen die Unzufriedenheit besitzen, umgeben von Mitbürgern, die in schmerzlicher Verwunderung über das bedrückende Unrecht nur die Hände über dem Kopf zusammenschlagen können.“

Gut Informierten war bereits in diesen Tagen klar, dass das ungelöste Kosovo-Problem zu einem neuen Krieg führen würde. Andjela hatte uns die düstere Prognose mit dem „neuen serbischen Realismus“ erklärt: „Erwarte stets das Schlimmste, dann kannst du nie enttäuscht werden.“ Trotzdem nahm sie wie die Mehrheit der Belgrader Bevölkerung die Drohungen der Nato zunächst nicht ernst. Als die ersten Bomben auf ihre Heimatstadt fielen, sprach Andjela entsetzt von einem „schweren Fehler des Westens“: „Jetzt ist Milošević stärker, als er jemals war. Er wird wohl eher als Märtyrer in die Geschichte eingehen denn als Tyrann.“

Die Phase der „Massenaufläufe, patriotischen Lieder, Konzerte, der Gehirnwäsche des Fernsehens und der Freiwilligen, die in den Krieg ziehen wollten“, wird Andjela im Rückblick als das „niedrigste, schmutzigste und beschämendste Kapitel unserer Geschichte“ bezeichnen. Selbst mit ihrem eigenen Vater brach sie vorübergehend, als der „bereitstand, das Land bis zum letzten Blutstropfen zu verteidigen“.

Vom Honorar kaufte Andjela einen Computer – und einen Holzofen

Sie selbst ist heute stolz darauf, dass sie in dieser Phase „nicht wie alle anderen hilflos und betrunken in spärlich beleuchteten Räumen herumsaß, um sich selbst zu bemitleiden“. Das Kriegstagebuch als Rettungsanker. Später schreibt sie: „Ich habe mich wohl all die Jahre unterschätzt. Ha. Obwohl ich eine Menge Leute kenne, die behaupten, dass ich mich grundsätzlich überschätze.“ So fröhlich klingt Andjela in der Folgezeit nur noch einmal: Als sie vermeldet, dass ihr Texthonorar über die abenteuerlichsten Umwege angekommen ist. Einen eigenen Computer habe sie sich geleistet. Einen Teil des Geldes – „man kann nie wissen, wie lange der Strom fließt“ – investierte die Familie in den Kauf eines alten Holzofens, immerhin mit Kochplatte. „Holzofen neben Computer mit Internetanschluss“, seufzt Andjela, „ich wette, so etwas gibt es nur in Serbien.“

Als Erstes tippt sie in das neue Gerät ihre Meinung über die alten Anführer der Opposition. Für Zoran Djindjić und Vuk Drašković hat die 25-Jährige nur tonnenweise Verachtung übrig: „Wer glaubt denn noch an diese A. . .kriecher?“ Eine unbelastete Persönlichkeit müsse her, jemand, der mit dem „Drecksgeschäft“ Politik noch nie etwas am Hut hatte.

Wer aber könnte dies sein in einer Gesellschaft der „Desorientierten und Desillusionierten“, die nach Andjelas Worten noch immer von „verrückten Kriegsverbrechern“ regiert werde. Klare Worte. Gefährlich klar für ein Land ohne Meinungs- und Pressefreiheit, was der hübschen Studentin bewusst ist: „Ich habe keine Lust, von der Polizei gekidnappt und für Stunden in ihren Folterkammern verhört zu werden.“ Deshalb auch weiterhin kein Foto von Andjela.