Lasst hundert Schulen wetteifern

Das heißeste Eisen in der amerikanischen Schuldebatte sind Vouchers. Bildungsgutscheine öffnen Minderheitenkindern die Tür zur privaten Schule. Aber können Vouchers etwas an der Misere überfüllter, schlechter Public Schools ändern?

von PETER TAUTFEST

„Ich habe geheult und geheult“, erzählt Maria Miranda strahlend, „das war das schönste Muttertagsgeschenk.“ Die schwer behinderte, allein erziehende Mutter in Brooklyn hatte das große Los gezogen: einen Gutscheine für den Besuch einer Privatschule. Das Schulgeld hätte sich Maria Miranda nie leisten können. Für ihre Tochter eröffnete sich damit eine Alternative zum Besuch der öffentlichen Schule. Das heißt zu einer Schule, die in Amerikas Innenstädten meist überfüllt ist, in der Lehrer über- und die Kinder unterfordert werden, Schulmaterialien so unzureichend wie der Unterricht sind, und in der es täglich zu Gewalt kommt.

Voucher-Programme gibt es mittlerweile in Dutzenden von Städten. Milwaukee und Cleveland sind die bekanntesten. In etlichen Bundesstaaten wird darüber diskutiert. Ein Voucher (Gutschein) ist ein staatliches Stipendium zum Besuch einer Privatschule nach Choice (Wahl) der Eltern. Was der Voucher produzieren soll, ist Wettbewerb. Die Idee, auch die Schulen dem scharfen Wind der Konkurrenz auszusetzen, wurzelt in zwei Entwicklungen. Dem weltweiten Siegeszug des Marktes – und der Misere der öffentlichen Schule in den USA.

Das Urteil der amerikanischen Eltern über die Bildungsgutscheine ist fast einhellig, nämlich zustimmend. Zwei Drittel der Eltern, die ihre Kinder per Voucher auf eine Privatschule schicken können, sind mit der Qualität des Unterrichts „sehr zufrieden“. Bei den staatlichen Schulen sind dagegen nur ein Drittel der Eltern von der Unterrichtsqualität angetan. Die Untersuchung des Voucher-Experiments in Cleveland, bei dem ausgeloste Eltern jährlich 2.250 Dollar für eine Schule ihrer Wahl erhalten, bestätigt diesen Unterschied. Im Urteil befragter Eltern zu den Aspekten „Sicherheit“, „Disziplin“ und „Engagement der Lehrer“ schneidet die private Schule jeweils deutlich besser ab als die staatliche.

„Voucher“ und „Choice“, das sind gleichwohl Stichworte, bei denen die Debatten in den USA leidenschaftlich werden. Für die einen sind die Gutscheine nötig, um den staatlichen Schulen Druck zu machen – für eine radikale Umwälzung des traditionellen Schulwesens mit seiner tödlichen Routine, den veralteten Methoden und seinen babylonischen Bürokratien. Die anderen schimpfen, die Gutscheine für Privatschulen verletzten die Idee eines öffentlichen Schulwesens. Ein paar Vouchers würden jenen 90 Prozent der 47 Millionen jungen Amerikaner kein bisschen helfen, die staatliche Schulen besuchen. Für die Kandidaten der Demokraten und Lehrergewerkschaften sind Vouchers Teufelszeug. Konservative und Republikaner hingegen sehen in den Gutscheinen das Allheilmittel zur Sanierung von Amerikas marodem Schulsystem.

Amerikas Schulwesen schneidet im internationalen Vergleich notorisch schlecht ab. Bei dem berühmten TIMSS-Leistungsvergleich, dem „Third International Mathematics & Science Study“, der 1995 eine halbe Million Schüler in 41 Ländern verglich, landeten amerikanische Schülerinnen und Schüler in den Disziplinen Mathematik und Naturwissenschaften auf den letzten Plätzen. Vor allem in den höheren Klassen lagen die Leistungen der US-Amerikaner weit hinter denen ihrer Altersgenossen aus Europa, Japan und denen afrikanischer Jugendlicher.

Am Geld kann diese Misere eigentlich nicht liegen. Die amerikanischen Bildungshaushalte wuchsen zwischen 1974 und 1991 inflationsbereinigt jährlich um 2,5 Prozent – ohne, dass die gravierendsten Mängel abgestellt worden wären. Das machte die Voucher-Idee wieder aktuell: Sollten doch hundert Schulen um die Gunst der Eltern wetteifern.

„Vouchers sind historisch eine Idee der Bürgerrechtler“

Vor zehn Jahren bereits startete die Stadt Milwaukee im Bundesstaat Wisconsin ihr VoucherProgramm. „In Milwaukee bildete sich eine Koalition aus Bürgermeister und Arbeitgebern“, erinnert sich Susan Mitchell, Vorsitzende des Vereins American Education Reform Council. Der eine wollte keine Stadt regieren, die sich allmählich entleerte; die anderen wollten nur in die Stadt investieren, wenn deren Schulsystem Absolventen hervorbrachte, die einstellungsfähig waren.

„Weiße Eltern haben seit langem ‚Choice‘ “, sagt David Riemer, Assistent des Bürgermeisters von Milwaukee. Weiße, besser verdienende Eltern treffen ihre Schulwahl – durch Umzug. Sie gehen dahin, wo die Schulen gut sind: nach Suburbia. Auf diese Weise verlor die Innenstadt von Milwaukee seit den Sechzigerjahren kontinuierlich ihren Mittelstand. Und die Arbeitsplätze gingen mit.

In den Innenstädten erodierte mit der „Weißen Flucht“ die Steuerbasis der Kommune: Die Schülerschaft wurde zum Ergebnis negativer Auslese. Die Schulen verkamen. Dagegen sollten Vouchers helfen. Sie wurden in Milwaukee vor zehn Jahren an einkommensschwache Eltern verteilt. 1994 wurde das Programm, das anfangs konfessionelle Schulen ausgeschlossen hatte, auf alle Schulen Milwaukees erweitert. Heute, im Schuljahr 1999/2000 gehen in Milwaukee 8.000 Schüler mit Hilfe von Vouchers im Wert von je 5.000 Dollar in 91 Privatschulen. Ihr Spektrum reicht von der Montessori bis zur Harambe Schule, von der Gesegneten-Sacrament- bis zur katholischen Dreifaltigkeits-Schule. Voraussetzung für den Erhalt von Vouchers ist, dass das Einkommen einen Mindestsatz nicht überschreitet.

Die Idee schlug bei der Bevölkerung Milwaukees ein. Vouchers sind besonders bei Minderheiten und Armen immens populär. „Vouchers sind historisch eine Idee der Bürgerrechtsbewegung und der Kampagnen gegen die Armut“, erinnert sich David Riemer zurück. „Die Bürgerrechtsbewegung träumte von Freien Schulen, in der auch schwarze und arme Kinder zur Schule gehen könnten, ohne diskriminiert zu werden.“ Untersuchungen zu Vouchers (siehe Kasten) stellen zwar übereinstimmend fest, dass die Leistungen der Gutschein-Schüler besser werden. Aber die Forschungen sind, von ihrer Anlage und den Ergebnissen her, heftig umstritten. Das liegt daran, dass die Debatte um Erziehung nicht nur ein Streit um Visionen und Ideologie ist. Es geht auch um Geld – um verdammt viel Geld. Die USA geben zusammen für das öffentliche Schulsystem die Kleinigkeit von 350 Milliarden Dollar im Jahr aus – das ist ein riesiger Geldtopf, der Interessen mobilisiert: die privaten Schulen, denen Vouchers gute Einnahmen bringen können; und die Interessen der amerikanischen Lehrergewerkschaften – die nicht wollen, dass öffentliches Geld in Schulen gesteckt wird, in denen sie nichts zu sagen haben.