Der Unbeirrbare

Der marokkanische Islamistenchef Abdessalam Yassine, der wegen seiner mutigen Predigten jahrelang verfolgt wurde, ist wieder frei

Abdessalam Yassine möchte von nun an sein, was ihn der verstorbene Monarch Hassan II. nie sein ließ: „ein normaler Bürger“. Dies jedenfalls versicherte die Tochter des Führers der marokkanischen islamistischen Organisation „Gerechtigkeit und Wohltätigkeit“ in seinem Namen. Kurz zuvor hatte Innenminister Ahmed Midaoui in einer Fernsehansprache die Aufhebung des Hausarrestes gegen den 72-jährigen Scheich bekannt gegeben. Anlässlich des Freitagsgebets will der Lehrer im Ruhestand morgen erstmals seine vier Wände verlassen. Zehn Jahre lang stand Yassine in Sale, der Nachbarstadt Rabats, unter Hausarrest.

Zehntausende werden morgen erwartet, um den bärtigen Schriftgelehrten zu begrüßen. Für sie ist Yassine alles andere als ein „normaler Bürger“. An den Universitäten und in den Armutsvierteln der Städte verehren sie den Mann, der in Marokkos politischer Klasse auf einsamer Flur steht. Denn er traut sich, was weder die Linke noch gemäßigte Islamisten wagen: Yassine übt offen Kritik am Königshaus. Er beschuldigte den verstorbenen Hassan II., der ihn zu insgesamt 15 Jahren Gefängnis, Psychiatrie und Hausarrest verdammte, des Diebstahls am Volk. In einem offenen Brief forderte Yassine im Januar Hassans Sohn und Nachfolger Mohammed VI. auf, das auf 50 Milliarden Dollar geschätzte Auslandsguthaben seines Vaters zurück ins Land zu bringen. Dies wäre „eine historische Geste“, mit der das Land „vom Joch der Weltbank befreit werden könnte“. Die Botschaft kommt an. Und für seine Lehren kann der Scheich hunderttausende mobilisieren.

Yassine, der anstatt den Islam zu modernisieren die „Moderne islamisieren“ will – so der Titel seines Hauptwerkes – bestreitet dem marokkanischen König die Rolle als „Führer der Gläubigen“. Das könne nur der Beste vor Gott sein. Eine Vererbbarkeit dieses Titels verstoße gegen die Normen der Religion. Dass er aus dieser Überzeugung nie einen Hehl machte, verzögerte Yassines Freilassung um fünf Jahre. Als Hassan II. im Dezember 1995 Güte beweisen wollte und dem alten Islamisten einen Moscheebesuch genehmigte, hatte der nichts Besseres zu tun, als erneut eine flammende Predigt gegen den gottlosen König zu halten. Noch während des Gebets wurde er in seine Wohnung zurückgebracht.

„Abdessalam Yassine muss die Gesetze und die heiligen Institutionen des Landes respektieren, ansonsten wird er die Macht des Gesetzes zu spüren bekommen“, warnte der Innenminister gestern. Ob damit alle „Missverständnisse“ über die Aufgaben eines „normalen Bürgers“ beseitigt sind, muss sich erst noch zeigen.

REINER WANDLER