Eigene Akzente sind in Moskau nicht erwünscht

Russlands gestern bestätigter neuer Premier Michail Kasjanow soll sich ganz den Wünschen von Staatspräsident Wladimir Putin fügen

MOSKAU taz ■ Russland hat wieder einen neuen Ministerpräsidenten. Gestern bestätigte die Duma den geschäftsführenden Premier Michail Kasjanow mit überwältigender Mehrheit im Amt. 325 Abgeordnete stimmten für und lediglich 55 gegen den 42jährigen Finanzexperten, bei 15 Enthaltungen. Damit erzielte der Wunschkandidat von Staatspräsident Wladimir Putin ein Rekordergebnis, wie noch keiner seiner Vorgänger im postsowjetischen Russland. Die Eintracht reichte von den wirtschaftsliberalen Restreformern in der „Union der Rechtskräfte“ (UdR) bis hinein in die kommunistische Fraktion. Nur die Vertreter Jablokos, der einzigen Partei im westlichen Sinne, enthielten dem Premier ihr Vertrauen vor.

Die „streitlose Demokratie“, wie sie Russland bisher nicht kannte, ist nicht nur Zeichen einer fehlenden Alternative, sie wirft überdies bedrohliche Schatten einer schleichenden Gleichschaltung voraus. „Michail Kasjanow wird noch weniger entscheiden als der glücklose Premier Sergej Stepaschin“, kommentierte ein langgedienter Mitarbeiter im Moskauer Weissen Haus den Wahlausgang. Bewusst wählte Putin den Technokraten ohne eigene politische Ambitionen. Seine einzige Aufgabe besteht darin, die Regierungsgeschäfte zu verwalten und Störungen zu vermeiden. Eigene Akzente werden von Kasjanow nicht nur nicht erwartet, sie sind gar unerwünscht.

Ein halbes Jahr, munkelt man auf den Korridoren der Macht, werde es noch dauern, bis die Karten in Russland neu gemischt seien. Die „Vertikale der Macht straffen“ und die „Diktatur des Gesetzes“ einführen, waren Köder, mit denen Putin die Wähler lockte. Erste Schritte, mit weitreichenden Konsequenzen, hat der Präsident bereits am Wochenende unternommen, als er per Dekret die Regionen der Föderation einer stärkeren Kontrolle des Zentrums unterstellte.

Der weitere Umbau der „Vertikale“ sieht den Ausbau der Präsidialkanzlei zur alleinigen Machtzentrale vor. Kompetenzstreitigkeiten zwischen Kreml und Regierung, sowie Angst und Neid des alten Burgherrn Boris Jelzin vor dem persönlichen Erfolg seiner Premiers lähmten in der Vergangenheit beide Instanzen. Es besteht somit Handlungsbedarf, die Zuständigkeiten zu klären. Beobachter fürchten indes , die Absicht das Regieren effektiver zu gestalten, sei nur ein Vorwand, um das gesamte politische Leben aus dem Kreml heraus zu dirigieren. So plane man dort, nachdem Putin schon über eine handzahme Duma verfügt, die Zusammensetzung und den Wahlmodus des Oberhauses, des Föderationsrates, zu verändern. Ihm gehören bisher die gewählten Gouverneure und Vorsitzenden der regionalen Parlamente an.

Eine Korrektur der Leitungsstrukturen birgt in sich noch keine Gefahr. Für Unruhe sorgt jedoch, dass Putin offenkundig nicht daran denkt, die Präsidialkanzlei mit neuen Leuten zu besetzen. So führt weiterhin Alexander Woloschin die Geschäfte. Der Kanzleichef überwacht und wahrt die Interessen der sogenannten Familie, jenes Clans, dem die Kinder Boris Jelzins sowie deren oligarchische Finanzverwalter und engste Mitarbeiter angehören. Auch Michail Kasjanow zählt zu dieser Gesellschaft. Der Einfluss der Finanzoligarchen scheint daher ungebrochen und die Aussicht auf Reformen eher trübe. Die Finanzmagnaten haben weder Interesse an einer funktionierenden Marktwirtschaft noch an der Kontrollfähigkeit einer zivilen Gesellschaft. KLAUS-HELGE DONATH