Integration durch höhere Strafen

Die Bundesregierung verstärkt den Druck auf Arbeitgeber, schwerbehinderte Mitarbeiter einzustellen: Quoten werden gesenkt, Strafen erhöht

von NICOLE MASCHLER

Uwe Gawenat ist eine Ausnahme. Auf dem Schwerbehindertenausweis, den der 27-Jährige in der Tasche trägt, steht eine 80. Grad der Behinderung: 80 Prozent. Der gelernte Kaufmann leidet an einer Augenkrankheit, seine Sehkraft ist stark eingeschränkt. Nach zwei Jahren Suche hat er im November eine Stelle als Buchhalter in einem Handwerksbetrieb südlich von Berlin gefunden. Das 9-Mann-Unternehmen, ein Reparaturbetrieb für Gabelstapler, erhält Lohnbeihilfen vom Arbeitsamt. Gawenats Chef Philipp Zauleck sieht die Sache pragmatisch: „Ich habe keine besondere soziale Ader. Die Personalkosten zu senken ist eine feine Sache. Aber das Wichtigste war, dass wir schnell eine Bürokraft brauchten.“ So einfach könnte es sein, ist es aber nicht.

Von den knapp 1,1 Millionen Schwerbehinderten auf dem Arbeitsmarkt war 1998 nur jeder fünfte im regulären Sektor beschäftigt. Mit höheren und gestaffelten Strafabgaben will Bundesarbeitsminister Walter Riester (SPD) deshalb künftig den Druck auf Arbeitgeber erhöhen. Gestern legte er im Kabinett den Entwurf für eine Novelle des seit 1974 geltenden Schwerbehindertengesetzes vor, die noch im Oktober in Kraft treten soll.

Betriebe mit mehr als 20 Stellen müssen umso höhere Abgaben zahlen, je weniger Schwerbehinderte sie einstellen – künftig zwischen 200 und 500 Mark. Im Gegenzug soll die Beschäftigungsquote von sechs auf fünf Prozent sinken. „Unser Ziel ist es nicht, die Ausgleichsabgabe zu erhöhen, sondern die Integration“, betont Riester. Innerhalb von drei Jahren, so das ehrgeizige Ziel, soll sich die Zahl der arbeitslosen Schwerbehinderten um 50.000 verringern.

Den Erfolg des Staffelmodells will Riester nach zwei Jahren überprüfen. Wird die Zielmarke bis Ende 2002 nicht erreicht, steigt die Pflichtquote wieder. An der gestaffelten Ausgleichsabgabe will der Bund aber festhalten. Sollten die Betriebe ihre Einstellungspraxis nicht ändern, wandern bis zu 380 Millionen Mark mehr in die Töpfe der Bundesanstalt für Arbeit. Die finanziert mit der Zwangsabgabe ihre Fördermaßnahmen und Beratungsangebote.

Doch schon in der Vergangenheit haben mehr als drei Viertel der Arbeitgeber ihre Beschäftigungsquote nicht oder nicht in vollem Umfang erfüllt. Sie zahlen lieber die monatliche Ausgleichsabgabe von 200 Mark. Dabei hatte der Gesetzgeber ausdrücklich verhindern wollen, dass sich die Arbeitgeber von der Beschäftigungspflicht freikaufen. Doch die beruflichen „Perspektiven“ der Schwerbehinderten beschränken sich auf lange Arbeitslosigkeit, vorzeitige Rente oder einen Arbeitsplatz in einer Werkstatt.

Die Gesetzesnovelle soll das nun ändern. Ob dies gelingt, ist fraglich. In der modernen Industrie sind Hilfsarbeiterjobs weggefallen. Gesucht ist die Fachkraft. Lern- und geistig Behinderte haben kaum noch Chancen auf einen Job.

Es ist gerade die Flexibilität, die vielen Schwerbehinderten fehlt, weiß Wolfgang Löhr, einer von drei Schwerbehinderten-Beratern beim Berliner Arbeitsamt West. Eigentlich beschränkt sich sein Auftrag auf die Arbeitsmarkt-Vermittlung: Adressen weiterleiten, den Kontakt herstellen zwischen Arbeitgebern und Jobsuchenden. Doch der Arbeitsberater meint, dass er damit oft den zweiten Schritt vor den ersten setzt. „Wir bräuchten viel Zeit für persönliche Gespräche, aber die ist nicht da.“

Nach dem Gesetzentwurf sollen deshalb künftig die Integrationsfachdienste (IFD) ausgebaut werden. Die Beratungsstellen, die bisher bei freien Trägern angesiedelt waren, sollen nun der Bundesanstalt für Arbeit angegliedert werden. Während Löhr für seine Beratungsgespräche meist nur eine halbe Stunde hat, können sich die Berater beim IFD intensiv um die Behinderten kümmern, sie in die Betriebe begleiten oder ihnen eine Praktikumsstelle besorgen.

Es sind zunehmend kleine und mittlere Betriebe, bei denen neue Arbeitsplätze entstehen. Gerade die sträuben sich aber dagegen, Schwerbehinderte einzustellen. „Ein kleiner Betrieb kann es sich noch weniger leisten, bei der Einstellung von neuen Mitarbeitern auf Risiko zu setzen“, sagt Löhr. Vor allem durch den besonderen Kündigungsschutz und den Zusatzurlaub für Schwerbehinderte würden viele Arbeitgeber abgeschreckt. Christoph Kannengießer vom Bundesverband der Arbeitgeberverbände bringt es auf die Formel: „Je mehr Schutzrechte, desto schlechtere Beschäftigungsaussichten.“ Schließlich erhielten die Betriebe für ihre Zusatzkosten keine Kompensation.

Die Politiker, glaubt auch Arbeitsvermittler Löhr, merken gar nicht, dass sie den Schwerbehinderten in den Rücken fallen. Handwerkschef Zauleck wollte einen geistig Behinderten als Techniker einstellen. Der Mann hatte einen Monat probeweise gearbeitet. Der Mann bräuchte eine Nachschulung. Das Arbeitsamt würde ihn ein Jahr lang fördern – unter der Bedingung, dass Zauleck ihn mindestens ein weiteres Jahr beschäftigt. Darauf will sich Zauleck nicht einlassen: „Förderung, die einen zwangsverpflichtet, ist nicht sehr hilfreich.“