Karg und Kärglichkeit

■ Auch gegenstandslose Kunst kann sexy sein. Das zeigt jetzt das Neue Museum Weserburg. Allerdings müssen die BesucherInnen zuvor einen Schock überwinden

Es kam ein Mondbewohner auf die Erde und landete sein Raumschiff mitten auf dem Teerhof in Bremen. Seltsame Schriftzeichen entdeckte er nach dem Aussteigen auf einem der Gebäude, dem Neuen Museum Weserburg: „Sinn + Sinnlichkeit – Körper und Geist des Bildes.“ Doch weil unser Mondmännchen an der Fernuniversität Hagen Deutsch gelernt hatte, konnte er die Zeichen lesen, verstand sie sogar als Ausstellungsankündigung und ging neugierig hinein. Er sah einen Fußboden so grau wie der Mondboden. Dazu einige wenige helle und dunkle Flecken wie das Licht- und Schattenspiel auf der mondlichen Kraterlandschaft. „Das sieht hier ja fast aus wie daheim“, dachte das Mondmännchen. So fühlte er sich schon beinahe wie zu Hause, bis ihm der Ausstellungskatalog in die Hände fiel und dabei aufklappte: Ein qietschendes Magenta stach ihm in die Augen, und im selben Augenblick erlitt der Besucher vom Mond einen Schock und verlor das Bewusstsein.

Verehrter Leser, gelehrte Leserin, Thomas „der Purist“ Deecke und Hanne „die Spartanikerin“ Zech vom Neuen Museum Weserburg haben mal wieder eine Ausstellung zusammengestellt. Darin behandeln sie ihr Lieblingsthema und zugleich eine der bedeutendsten Fragen der Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts: nämlich die Entdeckung und Weiterentwicklung der Abstraktion. Man könnte auch sagen: das Flügge werden der Kunst, seit sie die Aufgabe verloren hat, bloß die Wirklichkeit abzubilden. Mit ihrer Rückschau auf die Arte Povera und anderen Sonderausstellungen, aber auch in der ständigen Sammlung haben die KuratorInnen von der Weserburg dieses so wichtige wie spannende Thema immer wieder beleuchtet. Mit dem Titel der neuen Ausstellung „Sinn + Sinnlichkeit“ wecken sie jetzt die Erwartung, das geneigte Publikum diesmal ohne Umweg auch emotional zu packen. Doch diese Erwartung wird auf den ersten Blick gehörig enttäuscht.

Auf dem Mondboden und an den Museumswänden der ersten Etage locker verteilt sind Bilder, Installationen und Skulpturen von 26 KünstlerInnen. Das ist mal wieder das Gegenteil der so genannten Petersburger Hängung, nach der die Bilder dicht an dicht und in mehreren Etagen übereinander an den Wänden angebracht sind. Beim Reinkommen aus dem Treppenhaus oder dem Fahrstuhl sind ein paar an die Wand modellierte Pullover („One-Minute-Sculptures“) des Schweizer Künstlers und Spaßvogels Erwin Wurm zu sehen. Die sind zwar witzig, aber in der hiesigen Inszenierung eher ein Auftakt für eine Ausstellung „Karg + Kärglichkeit“. Mit den falschen Erwartungen im Kopf ist es beim Übertritt aus der bunten grellen Welt in diese Ausstellung so, als kommst du aus den Subtropen ins Hochgebirge. Doch – o, überraschende Wendung – wenn du aus den Subtropen ins Hochgebirge kommst, ist es nun mal auch so, dass nach einer Eingewöhnungsweile das Hochgebirge gar nicht mehr so öd ist und wüst und leer. Da kann ein weißes oder schwarzes oder blaues Bild plötzlich sogar sexy sein.

Wenn das Gegenüber oder der Gegenstand aus der Kunst verschwindet, kommt manchmal gar nichts mehr dabei raus. Manchmal aber bringen sich die BetrachterInnen selbst ein, und die KünstlerInnen fördern genau das mit all ihren Mitteln. So wie Mona Hatoum, die bei ihrem Objekt „Entrails Carpet“ auf eine Bodenplatte einen endlosen Silikonwurm drappiert hat. Das erinnert ans Gehirn oder an Darmwindungen. Eben noch möchte man drüberlaufen und hält dann vor lauter Bildern im Kopf inne. Es wäre doch zu eklig.

„Wir wollen zeigen, dass auch Kunst, in der nichts dargestellt wird, sinnliche Kunst sein kann. Das ist keine intellektuelle Kunst, sondern sofort verstehbar“, sagt Kuratorin Hanne Zech. Sie war beim Aussuchen für die Abteilung „Sinnlichkeit“, also für Objekte und Installationen, verantwortlich, während Thomas Deecke den „Sinn“ und mit ihm die Malerei übernahm. In beiden Abteilungen sind relativ viele Künstlerinnen unter den Künstlern. Neben Mona Hartoum sind abstrakte Körpergefühlsbilder von Maria Lassnig oder zwei hintersinnige Augenskulpturen von Rosemarie Trockel und Louise Bourgeois zu sehen.

Haben Frauen mehr Sinn für Sinnlichkeit? Blöde Frage. Fest steht zumindest, dass „Großmeisterinnen“ wie die Bourgeois oder die Lassnig keinen Sinn dafür hatten und haben, von der feminstischen Theorie vereinnahmt zu werden. Meint Hanne Zech. In eine Ecke gehört in der Ausstellung in der Weserburg nur ein Kunstwerk: Giulio Paolinis kreisrunder Lichtstrahl. Der scheint in einem abgedunkelten Raum schräg dorthin, wo sich Boden und Wände treffen. Die Dimensionen geraten hübsch durcheinander, wie es oft die Art ist bei den ArtistInnen des Minimalen.

Und die geben sich ihr locker gehängtes Stelldichein. Ein kleines blaues und ein kleines unblaues Bild von Yves Klein, ein großes und ein kleines schwarzes Bild mit abenteuerlicher Oberfläche von Tomoharu Murakami, drei völlig verschiedene weiße Bilder von Robert Ryman und ein – sinnlich! sinnlich! – aufgeschlitztes weißes Bild von Lucio Fontana treten da in Konkurrenz um die Suche nach dem Sinn der Malerei nach Erfindung von Fernsehen und Bildübertragung im Internet. Und mit einem fast schwarzen Aktbild von Jean Fautrier gesellt sich sogar ein Großvater dazu: Schon 1926 machten sich KünstlerInnen erste Gedanken zum Thema, das nach Auffassung Thomas Deeckes auch im 21. Jahrhundert eine große Rolle spielen wird. Allein deshalb ist „Sinn + Sinnlichkeit“ sehenswert, auch wenn die Präsentation (trotz Landesbank-Sponsoring) einen so sparsamen Eindruck macht. O, Ihr Weserburgfrauen und -herren: Selbst das Centre Pompidou liebt es heutzutage draller.

Christoph Köster

Bis 27. August im Neuen Museum Weserburg, Teerhof 20; Eröffnung: Sonntag, 21. Mai, 11.30 Uhr