Über Dächer gehen

Dem Bildhauer Alexander Polzin geht es vor allem um Heimatsuche, und bei seiner Arbeit sind ihm Leute wie Sokrates und Kleist genauso nah wie der Fernsehturm. Ein Porträt

von JOCHEN SCHMIDT

Das Gelände von Bergmann-Borsig in Wilhelmsruh. Früher wurden hier Turbinen produziert, und ABB hat auch immer noch eine Produktionsstätte. Manche der alten Backsteinhallen sind frisch renoviert worden, andere sehen aus wie früher. Auf der Suche nach einem Atelierraum für ein spezielles Projekt ist Alexander Polzin hier fündig geworden. Es ist eine alte unbeheizbare Werkhalle, in der noch ein Kalender von 1988 hängt. Es riecht nach Bohrmilch. Unter dem Glasdach jagen sich Tauben, und im Keller vergammelt ein toter Vogel in einer riesigen Pfütze. „Wie bei Tarkowski. Ich brauchte aber einen Hebekran“, sagt Polzin, und man versteht, warum: In der Mitte des Raumes steht die Skulptur, an der er in diesen Monaten arbeitet. „Die Seile halten zwei Tonnen.“ Das Material ist Fichte, und aus den zwei Tonnen wird er mit Hilfe einer schwedischen Schnitzaxt bis Ende Mai eine Tonne gemacht haben.

Bei einem Besuch in der Central European University in Budapest hat ihn der zentrale achteckige Raum fasziniert. Er schlug den Ungarn für diesen Platz eine Giordano-Bruno-Skulptur vor, und sie haben angebissen. Polzin hat mit zahlreichen Wissenschaftlern zum Thema korrespondiert, aber viele hat die Voraussetzung abgeschreckt, dass ihre Ansichten „keinen Zentimeter an der Arbeit ändern werden“. Denn bevor das Konzept nicht feststeht, beginnt er keine solche Arbeit. Einen Flug nach Rom hat er sogar wieder storniert. Denn ihm geht es um eine Bruno-Skulptur, von dem man nicht einmal das Gesicht kennt. Nicht um eine Bruno-Dissertation, von denen es viele gibt.

Mit dieser Spannung hat er Erfahrung: von Benjamin, Kafka, Kleist, Müller, Schumann, Brecht, Brasch, Callas, Sokrates und anderen gibt es Porträts, dazu kommen Arbeiten zu Don Quijotte, Penthesilea, Medea und schließlich so sperrige Vorhaben wie das Triptychon für die Wannsee-Villa. Ein halbes Jahr hat er in Israel verbracht und einen Granitblock bearbeitet, der Skulptur ist dort inzwischen der Kopf abgeschlagen worden.

Früher pflegte er seine Arbeiten zu verschenken, an die Palucca-Schule in Dresden, an das Einstein-Forum in Potsdam, ein Engel steht vor dem Collegium Helveticum in Zürich, ein Sokrates in der Universität von Tel Aviv. Inzwischen verkauft er auch.

Polzin, der noch nie ein Stipendium oder einen Preis bekommen hat, hat sich einmal an einer Kunsthochschule beworben und seine schwere Mappe wie ein Kreuz durch den tiefen Schnee geschleppt. Er wurde nicht angenommen und ist immer noch froh darüber. Statt Aktstudien zu betreiben, hat er eine Steinmetzlehre begonnen. Gegen Enttäuschungen war er längst immun, denn zu der Zeit hatte er die Anerkennung von ihm wichtigeren Menschen. Vor allem von Heiner Müller, zu dem er ein halbes Dutzend Arbeiten angefertigt hat. Die Hauptsache sei „Work“, hat der ihm eingetrichtert, und Polzin schläft wenig und arbeitet viel.

Seine allein stehende Mutter hat er auf diese Weise früh aus der Wohnung herausgedrängelt, er brauchte den Platz für seine Leinwände und schlief zwischen Farbtöpfen. Irgendwann wurde ihm das fast zum Verhängnis, als die Wohnung mitsamt drei Dutzend Ölbildern und Grafiken abbrannte. Da dachte er kurz ans Aufhören, aber wieder war es Müller, der die richtigen Worte fand: „Jetzt hast du wenigstens eine Biografie“. Die anstehende Klage der Versicherung gewann Polzin mit Hilfe eines Rechtsanwalts, den er mit einem seiner übrig gebliebenen Bilder bezahlte.

Sein erstes veröffentlichtes Bild erschien in einem Kinderkalender. Um es zu malen, war er nachts auf das Dach der alten Malz-Fabrik in Pankow gestiegen. Auf die Art erfindet man sich selbst. Im Grunde steigt er immer noch auf Dächer. Das verstehen die nicht, die ihm wegen seiner Themen Bildungshuberei vorwerfen. Aber es geht nicht um die Namen, sondern um Heimatsuche. Und da waren ihm Kleist oder Sokrates immer genauso nah wie der Fernsehturm.

Im Moment hat er keine Wohnung, die letzte Freundin hat ihn hinausgeworfen. Sein Tagesablauf aber ist eher spießig, es bleibt ja keine Zeit für Exzesse, wenn man sich immer wieder etwas beweisen will, die Skulpturen immer größer werden, die Bilderfolgen immer monströser und die Zeiträume, in denen die Fertigstellung geplant wird, immer länger. Trotzdem hat er es nicht eilig, bekannt zu werden, es geht nur um die Türen, die sich einem dann eher öffnen. Ein Lieblingsprojekt, einen „Wächter“ auf der Kreuzung Pankow – Kirche aufzustellen, ist ihm nicht gelungen.

Pankow blieb unbewacht, sehr zu seinem Schaden, wie der neue Promarkt-Kasten gegenüber dem Rathaus belegt. Auch der Versuch, eine „Meditierende Gruppe“ im Eingangsbereich der Staatsbibliothek unter den Linden aufzustellen, ist immer wieder an irgendeiner Instanz gescheitert. Doch Widerstände haben ihn immer stärker gemacht, und wenn es keine gibt, dann sucht er sich welche. Oder er schnitzt an einem Baumstamm für Budapest.