Vermisst: Klarheit über Opfer

Auch wenn sich Überlebende der Explosion bei den Behörden in Enschede melden, werden sie nicht von der Vermisstenliste gestrichen

aus Amsterdam HENK RAIJER

Anne te Kiefte atmet tief durch. Noch Tage nach ihrem „Behördengang“ packt sie die Wut. „Unfähig, total unfähig“, sagt die 30-Jährige, die mit Mann und zwei Kindern die Hölle von Enschede überlebt hat. „Siebenmal haben wir den Krisenstab seit diesem schrecklichen Samstag telefonisch bitten müssen, uns von der Liste zu streichen und damit Angehörigen und Freunden mitzuteilen, dass wir am Leben sind. Trotzdem führten sie uns bis Dienstagabend als vermisst.“

Auch fünf Tage nach der Explosion einer Feuerwerksfabrik in der holländischen Provinzstadt Enschede, bei der bis gestern 18 Tote und knapp 650 Verletzte gezählt wurden, herrscht Unklarheit über die Zahl der Vermissten. Sprachen die Behörden zunächst von 200, später von 400, dann wieder von 200 bis 300, meldete Bürgermeister Jan Mans am Mittwochabend plötzlich 110. Gestern Abend gaben die Behörden neue Zahlen bekannt und reduzierten erheblich: Nun werden nur noch knapp 40 Personen vermisst. Sehr prompt wurde allerdings ein Bericht des Westdeutschen Rundfunks dementiert, wonach mehr als siebzig Menschen in dem Inferno umgekommen sein sollen. „Das ist völliger Unsinn“, sagte Bürgermeister Mans zu den Informationen des Senders.

Die Menschen fühlen sich von den Behörden nicht ernst genommen

Insgesamt fünfzig Polizei- und zwanzig Verwaltungsbeamte sind seit mehreren Tagen rund um die Uhr mit der Vermisstenliste befasst. Das von den Betroffenen und der Bevölkerung immer wieder monierte Behördenchaos erklärt sich Polizeichef Andre Meijboom mit der Vielzahl von Meldungen aus dritter und vierter Hand. „Insgesamt haben unsere Leute bislang 4.400 Meldungen entgegengenommen“, sagte Meijboom am Mittwoch der Tageszeitung De Limburger. Als Problem habe sich auch herausgestellt, dass der Krisenstab zu Beginn sechs verschiedene Listen führte, was das „Updaten“ erschwert habe.

Für viele Einwohner Enschedes, die bei dem Inferno vom Samstag alles verloren haben und zumindest das nackte Überleben bekannt geben wollten, war es schwer, ernst genommen zu werden. Erst als das Ehepaar Te Kiefte, deren Haus von der Explosion in der ostniederländischen Stadt vollständig verwüstet worden ist, nach sieben offenbar vergeblichen Anrufen persönlich vorspricht und einer sichtlich überforderten Verwaltungsbeamtin mit der Presse droht, sollte sie ihren Computer nicht sofort anwerfen, aktualisiert diese das Vermisstenregister und streicht schließlich vier Personen von der Liste.

Bürgermeister Mans und Polizeichef Meijboom verweigerten noch am Mittwochabend eine Antwort auf die Frage, ob manche Opfer der Explosion womöglich nie mehr gefunden würden. Immerhin räumte Meijboom ein, dass die Identifizierung gefundener Körperteile immer schwieriger werde: „Es ist dort im Wohnviertel Roombeek in unmittelbarer Nähe zum Werksgelände von S. E. Fireworks zu einer enormen Hitzeentwicklung gekommen. Je näher man an den Ort des Geschehens gelangt, desto schwieriger wird die Arbeit.“

Mit der aktualisierten Vermisstenliste, die gestern Abend bekannt gegeben werden sollte, hofft der Krisenstab nun schneller arbeiten zu können. Eine fünfzig Mann zählende Sondereinheit der Polizei befragt seit einigen Tagen die Angehörigen als vermisst geltender Personen, fährt sogar ins europäische Ausland, wo sie Einwohner Enschedes im Urlaub vermuten, die noch auf der Liste stehen. Die Informationen zu besonderen Körpermerkmalen, Kleidung oder Gebiss, die sie in „schwierigen, emotionsgeladenen Gesprächen“ in Enschede sammeln, stellen sie den Kollegen des Katastrophenidentifizierungsteams (RIT) zur Verfügung, das schon 1992 nach der Flugzeugkatastrophe im Amsterdamer Stadtteil Bijlmermeer einschlägige Erfahrungen gemacht hat.

Nach wie vor suchen die Männer in ihren weißen Anzügen und mit Schutzmasken vorm Gesicht das Gelände der Feuerwerksfirma und den Ort, wo Schutt und ausgebrannte Autos abgeladen werden, systematisch nach menschlichen Überresten ab. Laut RIT-Chef Dirk de Jong ist inzwischen die Hälfte des von Explosion und Brand betroffenen Viertels auf diese Weise minuziös untersucht worden. De Jong, der sagte, „so etwas wie in Enschede noch nie in meiner Laufbahn gesehen zu haben“, räumte gestern ein, es sei möglich, dass sein Team eine lückenlose Identifizierung nicht schaffen werde. Aber „wenn wir ganz genau suchen, werden wir immer etwas finden“. Schwierig sei nur zu bestimmen, ob die gefundenen Fragmente menschlicher Körper“ einen Menschen ergäben oder zu mehreren gehörten.

Während die Arbeit des Identifizierungsteams laut RIT-Chef De Jong noch mindestens „über das Wochenende“ fortgeführt wird, gerät die politische Führung der Stadt Enschede zunehmend in die Schusslinie. Nicht nur hat die Stadtverwaltung ein bereits 1997 erstelltes Gutachten des Amtes für Naturwissenschaftliche Forschung (TNO) in Delft in den Wind geschlagen, wonach eine Genehmigung für die Lagerung von Feuerwerk in simplen Schiffscontainern noch im letzten Jahr nie hätte erteilt werden dürfen (siehe taz vom 18. 5.).

Der Umweltexperte Marcel Middelkamp ist darüber hinaus nach Einsicht der Papiere der festen Überzeugung, dass sich die Kommune bei der Erteilung der Genehmigung an die Feuerwerksfirma ernste Formfehler geleistet hat. Die Genehmigung für S. E. Fireworks, deren Wortlaut Middelkamp am Mittwochabend im niederländischen Fernsehen zeigte, findet erst in einem versteckten Zusatz zu einer Genehmigung für eine Rinderschlachterei auf demselben Gelände Erwähnung.

Auch habe die Stadt im Zuge der obligatorischen öffentlichen Bekanntmachung der Genehmigungserteilung versäumt, den Text auch auf türkisch und arabisch auszuhängen, wo doch Türken und Marokkaner die größte Bevölkerungsgruppe in dem betroffenen Wohnviertel stellen.

„Etwaige Beeinträchtungen“ auf ein Minimum begrenzt

Heftige Kritik äußerste gestern auch ein Einwohner Enschedes, der zur Zeit der Katastrophe im Urlaub war und dessen Haus völlig zerstört worden ist. Martin Slot hatte als Einziger im vergangenen Jahr gegen die Genehmigung einer Ausweitung der Lagerkapazität bei der Firma S. E. Fireworks Beschwerde eingelegt.

Auf seine Eingabe mit dem Tenor, ein solch gefährliches Gewerbe habe in einem Wohngebiet nichts zu suchen, erhielt der 41-Jährige die lapidare Antwort aus dem Rathaus, es handelte sich in diesem Fall nicht um ein Wohn-, sondern um ein Industriegebiet. Etwaige Beeinträchtigungen für die Anwohner durch die Firma S. E. Fireworks wolle diese auf ein Minimum begrenzen. „Eine Fahrt durch das Wohnviertel Roombeek dürfte zeigen, wie S. E. Fireworks das gemeint hat“, bringt Martin Slot zynisch seine Wut über die politisch Verantwortlichen seiner Heimatstadt auf den Punkt.

Die Staatsanwaltschaft hat Schritte zu einer strafrechtlichen Verfolgung der beiden Geschäftsführer von S. E. Fireworks, Ruud Bakker und Willem Paper, die nach wie vor abgetaucht sind, unternommen: Sie werden jetzt per Haftbefehl geuscht. Der namhafte Juraprofessor Theo Schalken fordert sogar die strafrechtliche Verfolgung auch der politisch Verantwortlichen der Brandkatastrophe von Enschede – wegen fahrlässiger Tötung.

Dazu erklärte gestern Bürgermeister Jan Mans: „Ich bin und bleibe verantwortlich für alles, was mit der Katastrophe zusammenhängt. Ich verantworte den Feuereinsatz vom Samstag, bei dem vier Männer umgekommen sind. Das waren meine Jungs. Wenn man mich dafür strafrechtlich in die Verantwortung nehmen will, warte ich auf die Zustellung einer solchen Verfügung.“