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: Asiatische Regisseure im Festival der Schinken, Epen und Historienfilme

OMAS HOCHZEIT

Das filmische Zeitkontinuum ist gerade auf Festivals unberechenbar. Da zwischen kaffeelosem Aufstehen und Vorführungsbeginn manchmal nur eine halbe Stunde liegt, können zwischen letzten Traum- und ersten Filmbildern interessante Überblendungseffekte entstehen. Godards immer wieder zitierte Regel, dass man vor allem in Filmen einschläft, in denen man sich gut aufgehoben fühlt, gilt natürlich auch für Cannes. In Fall einer so personenreichen Familiengeschichte wie Edward Yangs „Yi Yi“ kann es einem da durchaus passieren, dass man sich über das sang- und klanglose Verschwinden der Mutter wundert, weil man gerade den Moment verpasst hat, in dem sie für zwei Wochen zum Meditationstempel abgereist ist.

Aber auch wenn man wach bleibt, ist das breite Geflecht von Familien-, Geschäfts-, Liebes- und Nachbarsbeziehungen in diesem dreistündigen Film nicht ganz einfach zu durchschauen. Dabei beginnt „Yi Yi“ praktischerweise mit einer Hochzeit, die im Kino ja meistens deshalb stattfindet, damit man alle Figuren und ihre Probleme in Ruhe kennen lernen kann. In Taipehs gehobener Mittelschicht scheinen das in erster Linie Geldsorgen zu sein. Plötzlich fällt die Großmutter ins Koma, und dieser schlafende, bewusstlose Körper wird für alle Familienmitgieder zur Projektionsfläche der eigenen Trauer, Verunsicherung, Frustration. „Yi Yi“ ist wie ein breiter filmischer Fluss, der sich ganz langsam in Bewegung setzt. Irgendwann ist man mittendrin in den ruhigen Einstellungen und fühlt sich wie ein weiteres, entferntes Familienmitglied, das im Hintergrund dieser Bilder von unglaublicher Tiefenschärfe auch noch Platz hätte. Man hofft, dass die Oma wieder aufwacht und der Vater nicht mit der Exgeliebten anbändelt, man wünscht der Tochter alles Glück bei der ersten schüchternen Liebe und schaut dem sechsjährigen Steppke zu, der die Hinterköpfe seiner Mitmenschen fotografiert, „weil man die ja sonst nicht sieht“.

In diesem Festival der Schinken, Epen und Historienfilme hat Yangs unaufgeregte und genaue Bestandsaufnahme der taiwanischen Gesellschaft nach dem Wirtschaftswunder etwas wirklich Erholsames. Überhaupt schafften es nur die asiatischen Regisseure, die Dauer ihrer Filme in einen erzählerischen Sog zu verwandeln, in dem man sich in der Tat gut aufgehoben fühlt.

Ein bisschen merkwürdig muss sich der japanische Regisseur Aoyama Shinji vorgekommen sein, der morgens um 9 Uhr leicht verwuschelt und im Smoking zur Vorführung seines Films kam. Aus Angst vor der Länge von „Eureka“ (Foto) hatte die Festivalleitung die morgendliche Pressevorführung einfach zur Gala erklärt. Was bedeutet, dass man als schlaftrunkener Journalist über den roten Teppich entlang einer auch noch bedröppelt dastehenden Ehrengarde ins Kino geht, vorbei an drei verloren wartenden Fotografen. „Eureka“ ist so erzählt, wie seine Figuren sich fühlen: Zwei Jugendliche und der Fahrer sind die einzigen Überlebenden einer brutalen Busentführung, die sich nach zwei Jahren wieder treffen. Alle drei sind wie unter einer Glasglocke, immer noch im Zustand des Schocks. Um aus dem traumatisierten Dasein herauszukommen, begeben sie sich wieder in einen Bus und auf eine Reise durch Japan. Es gibt keine Gespräche, keine Erinnerungen, kein Psychodrama, keine Trauer. Bei Aoyama ist alles in den Bildern. Sie erzählen gerade nicht von Lethargie. Sie sind jeden Augenblick bereit, das Leben und die Dinge im schwarzweißen Cinemascope wahrzunehmen. Sie sind so real, dass sie schon wieder hyperreal wirken. In der traditionell überemphatischen französischen Presse wurde Aoyamas Film als strukturalistisches Postcinéma gefeiert. Dabei ist er pures Kino.

KATJA NICODEMUS