Hölle der Einsamkeit

Zynische Sterbehilfe für die Gelangweilten: „Radio Noir“ in der Schauspielhaus-Kantine  ■ Von Birgit Glombitza

Es ist Nacht. In der schwarzen Luft pendelt ein Herzschlag. Diffus und verzerrt. Verstärkt von akustischen Geräten und der Dringlichkeit einer Situation, die sich noch nicht entscheiden mag zwischen Furcht und Wut.

Die Radio-Moderatorin Parthenope kauert im Dunkeln in ihrer Kabine aus Glas und Gummi, die wie ein riesiges Auge in die Nacht schaut. Ein Monitor malt ihre Stimme im leuchtenden Zickzack nach. Kleine, bunte Lichter signalisieren den Stand der Dinge: ob die CD läuft, ob Jingles, Lach-, Heul-und Klatsch-Einspielungen bereit sind, oder ob jemand in der Telefonleitung wartet. Die Wände sind weiss und schallisoliert. Wie die münzbetriebenen Schlafboxen am Tokioter Flughafen, die zuspätkommenden Passagieren als klimatisierte Schlafwabe dienen. Bis zum Morgen, bis die nächste Maschine sie mitnimmt. „Komm wir fliegen“, flüstert jetzt die Nighttalkerin verheißungsvoll und nimmt doch nur Anlauf zum nächsten Tritt.

Jeder Anrufer, der sich hier ankuschelt, wird in die Weichteile getreten. Denn nichts fällt der Sirene Parthenope leichter, als ihre Stimme in die Umkleidekabine zu schicken und sie einfühlsam, lasziv, cool oder hysterisch wieder hervortreten zulassen. Ganz kernig und brustbehaart klingt sie immer dann, wenn die Nachtmoderatorin die Kulissen eines Bret-Eas-ton-Ellis-Romans entwirft. Dann ballern Pumpguns Löcher in die Selbstgefälligkeit, dann explodieren Köpfe, dann platzen Koksnasen, dann fließt Blut über Prada und Armani und der Zeichenmüll des Lifestyle lagert sich als Sprach-Plaque ab. Rent a friend. Buy a religion. Talk to me.

In Radio Noir gibt es Sterbehilfe für Menschen, die ihre Langeweile in die Phasenmomente alberner Events und modischer Koketterien mit dem Abgründigen einteilen. Lieber Hardcore statt Herzschmerz. Selbstmord ist schließlich immer eine Lösung, findet Parthenope, und stimmt einen ihrer Untergangsgesänge an. Man könnte sich auf die Autobahn legen, entspannen und warten, was von Fahrer und Überfahrenem übrigbleibt. So ein Mensch, das ist gar nicht viel. Sehnsucht und Knochen. Parthenope sitzt derweil in ihrem Zyklopenauge und überschaut alles. Das ganze Schwarz, das ganze Elend der Erfolgssklaven. Der liebe Gott und die Crash-Dealerin, die ihrem todessehnsüchtigen Publikum Geschichten von Auffahrunfällen und andere morbide Erlösungsphantasien unter die Kopfkissen legt. Bis keiner mehr anruft, die Technik kollabiert und sie es mit der Angst zu tun bekommt.

Radio Noir von Albert Ostermaier, das vor zwei Jahren im Mannheimer Nationaltheater uraufgeführt wurde, schlendert in der souverän getimten Inszenierung von Monika Gintersdorfer in der Kantine des Schauspielhauses am Sorgenstrich der Talkshows ebenso entlang wie am Zeitgeist der frühen 90er. Dabei trägt der Stoff seinen Hintersinn, seine Moral und Ambivalenz gleich auf der Zunge. Kein Rätselraten, kein Formalismus, keine Andeutung und kein theatrales Experiment. Aber eine virtuose Eine-Frau-Show der Schauspielerin Caroline Ebner. Wuchtig, kompakt und mit der Präzision einer Herzchirurgin gespielt.

Fällt es auch schwer, ausgerechnet das gute, alte Radio als massenhypnotisches Medium einer neuzeitlichen Hohepriesterin zu betrachten, führt Radio Noir doch gleichzeitig nostalgisch auf das zurück, worum es in diesem Theater eben gehen soll: Das gesprochene Wort. Schlicht und ergreifend. Oder verlogen und destruktiv. Kommt es überhaupt zum Dialog, dann nur als Verständigung über das Ausmaß wechselseitiger Verachtung. Hier gilt soziale Apathie als Maske des Bösen. Und wenn sich Parthenope alle Kostümierung vom Leib reißt, ist sie längst selbst durch die Hölle der Einsamkeit gegangen.

Aus ihrem transparenten Studio ist ein Glashaus geworden, Telefon und Mikro sind nicht länger Sezierinstrumente einer Zynikerin, sondern verkabeln die Sprach-invalidin mit dem Leben. Und das ist am Ende doch noch besser als nichts.

weitere Aufführung: 1. Juni; wird in der nächsten Saison fortgeführt, Schauspielhaus-Kantine