Hart, aber genau nach Vorschrift

In einem gewöhnlichen Diebstahlsprozess vor einem Pekinger Volksgericht spiegeln sich Erfolge und Misserfolge der chinesischen Justizreformen

aus PekingGEORG BLUME und CHIKAKO YAMAMOTO

Langsam nähert sich der weißblaue Gefangenentransporter dem sich öffnenden Eisentor des Volksgerichts. Die Gitterstäbe an den Fenstern geben den Blick frei auf das sitzlose Wageninnere: Da kauern drei Gefangene mit den Köpfen zwischen den Knien. Es sind Mu Xuejun, 31 Jahre alt, beschäftigungsloser Tapezierer, Zhu Xiaobei, 24 Jahre alt, beschäftigungsloser Fahrer, und Wu Jie, 20 Jahre alt, beschäftigungsloser Maler. Heute wird über ihre Zukunft entschieden.

Tausende Richter wurden entlassen

Im zweiten Gerichtssaal für Strafprozesse des Pekinger Volksgericht im Bezirk Haidian treten daraufhin in Reihenfolge auf: die Staatsanwältin, die drei Richter, die drei Angeklagten und ihre drei Verteidiger, unter ihnen eine attraktive junge Dame. Zunächst fällt das Alter aller Beteiligten auf. Unter den Prozessbeteiligten erreicht, mit Ausnahme eines älteren Verteidigers, niemand die Vierzig – ein Zeichen für den raschen Generationswechsel im chinesischen Strafrechtswesen. Tatsächlich gilt erst seit dem 1. Oktober 1997 ein neues Strafgesetzbuch, das ausgebildete Juristen ernst nehmen können. Vor 1997 galt der Angeklagte als Verbrecher, noch bevor er den Gerichtssaal betrat. Nun garantiert ihm das Gesetz die Unschuldsvermutung, solange das Urteil nicht gesprochen ist. Früher konnte der Richter über Verbrechen urteilen, die das Gesetz gar nicht erwähnte. Heute gilt auch in China das fundamentale rechtsstaatliche Prinzip: keine Strafe ohne Gesetz. Früher sicherten strafrechtliche Nebenbestimmungen jedem Ministerium sein eigenes Recht. Inzwischen sind sämtliche Nebenbestimmungen getilgt und das gleiche Gesetz gilt für alle.

Das zumindest ist die neue Theorie, die immer mehr junge chinesische Juristen verleitet, in das bisher von alten Parteikadern und pensionierten Angehörigen der Volksarmee richterlich kontrollierte Strafrechtswesen einzusteigen. Die KP fördert seit 1998 verstärkt den Personalwechsel. Derzeit zählt China insgesamt 170.000 Richter und 160.000 Staatsanwälte, von denen nach Regierungsangaben pro Jahr tausende im Zuge „disziplinarischer Maßnahmen für die Ahndung von Verstößen gegen die Prozessordnung“ vom Obersten Volksgericht entlassen werden.

Chen Lei, dem vorsitzenden Richter im Volksgericht des Pekinger Haidian-Bezirks, droht dieses Schicksal nicht. Der Absolvent der benachbarten Peking-Universität kennt die neuen Regeln genau, bleibt stets höflich gegenüber den Angeklagten, fällt der Verteidigung nicht ins Wort und erklärt jeden einzelnen Verfahrensschritt wie aus dem Lehrbuch.

Worum geht es? Die drei Angeklagten Mu, Zhu und Wu haben 1.237 Tapetenrollen geklaut. Es war ganz einfach. Die Firma W. (Wanjiadenghuo) besitzt mehrere Lagerhäuser, von denen sie eines an die Firma D. (Dingxinshi) vermietet hat. Darin lagerten die Tapeten seit fünf Jahren, ohne dass in letzter Zeit die Miete bezahlt wurde. Also ärgert sich die Firma W. Ihr Chef, Wu Ruijun, ist ein Onkel des Angeklagten Wus. Auf einen Wink des Onkels erfährt der jüngste der drei Angeklagten von den Tapeten, erkennt die vermeintlich günstige Lage und klaut mit zwei Kumpanen das teure Wandpapier. Doch noch am gleichen Tag hat Wu Streit mit seinem Vater, der den Vorfall am nächsten Tag der Polizei meldet. Wu und die beiden anderen Angeklagten werden festgenommen. Sie sind zuvor nicht straffällig geworden. Was aber macht der höfliche Richter im Namen des chinesischen Gesetzes mit den drei Dieben? Chen verurteilt jeden zu sieben Jahren Freiheitsstrafe, obwohl sogar die Staatsanwältin Milde empfohlen hatte.

Urteilsbegründung: Die gestohlenen Tapeten kosteten zur Zeit ihres Imports aus Europa Anfang der 90er-Jahre umgerechnet 30.000 Mark. Ihren Wertverfall ignoriert das Gericht. Für einen Warendiebstahl im Wert von über 25.000 Mark aber verlangt das neue Strafgesetz Haftstrafen ab sieben Jahren.

Hier erkennen westliche Juristen wie der ehemalige Leiter des deutsch-chinesischen Instituts für Wirtschaftsrecht in Nanking, Matthias Steinmann, die Schwächen des neuen chinesischen Strafgesetzbuches. In Sorge um die weit verbreitete Unprofessionalität des Rechtswesens im Reich der Mitte trifft das Gesetz Steinmann zufolge allzu präzise Vorschriften, die dem Gericht wenig Ermessensspielraum lassen. Das gilt auch für die Anwendung der Todesstrafe: Zwar beseitigt das neue Strafgesetz die oftmals willkürliche Praxis der Vergangenheit, wo jeder vor den Henker kommen konnte, der dem Richter nicht gefiel. Doch stattdessen enthält es nicht weniger als 61 Delikte, für die die Todesstrafe ausdrücklich vorgeschrieben wird. Das alte Gesetz tat dies nur in 19 Fällen. Das Ergebnis ist zwiespältig: Wenngleich die Extremsanktion für Bagatelldelikte, wie sie amnesty international in der Vergangenheit oft anprangerte, nicht mehr so oft vorkommen mag, wird die Gesamtzahl der Todesstrafen voraussichtlich nicht abnehmen, da die Richter nun in mehr Fällen als zuvor per Gesetz verpflichtet sind, das höchste Strafmaß auszusprechen.

Der Parteichef bleibt immun

Zutiefst erschrocken reagieren die drei Angeklagten auf den Urteilsspruch. „Ich bin jung und kenne das Recht nicht“, hatte der Maler Wu kurz zuvor seine Tat entschuldigt. Sein Onkel sieht es nach dem auch für ihn erschütternen Prozessausgang genauso: „Weder die Kinder noch wir Alten wissen etwas vom Gesetz und wie ein Prozess abläuft“, sagt Wu Ruijun, der sich längst große Vorwürfe macht, dass er es war, der seinem Neffen als erster von den Tapeten erzählte. Zudem ahnten die Angehörigen nicht früh genug, was auf dem Spiel stand. Nur durch einen Zufall erfuhren sie vom Ermittlungsstand der Staatsanwaltschaft.

Für He Weifang von der Peking-Universität ist diese Unwissenheit keine Überraschung. Im fehlenden Rechtsbewusstsein der meisten Chinesen erkennt er die größte Hürde auf dem Weg in den Rechtsstaat. „Natürlich ist das politische System immer noch ein großes Hindernis. Sozialistische Lehre und modernes Rechtswesen sind unvereinbar“, sagt der Herausgeber des angesehenen Peking Law Journal. „Aber die Tradition von Jahrhunderten fehlenden Rechtsbewusstseins ist hartnäckiger als jedes politische System. Noch ist der Rechtsstaat in China nur oberflächlich im Gesetz verankert, aber nicht in den Köpfen der Menschen.“

Das ist eine typisch chinesische Einstellung. Sie lässt die konfuzianische Hoffnung zu, dass sich das größte Volk der Welt zu mehr Recht und Gesetz erziehen lässt, auch wenn die Strukturen des Rechtsstaates unter einer Kommunistischen Partei unvollständig bleiben. Westliche Kritiker wie der Schweizer Jurist und Sinologe Harro von Senger würden dem widersprechen. Von Senger spitzt seine Analyse des chinesischen Rechtssystem immer wieder auf die unangetastete Allmacht der Partei zu. Kein Gesetz kann den Parteichef belangen, lautet seine in der Sache richtige Kritik.

Und doch kommen die Reformen voran. Unter Professor He und seinesgleichen legen jedes Jahr tausende junger Juristen ihr Staatsexamen ab. Sie werden an den großen Universitäten gut ausgebildet – auch gemessen an westlichen Standards. Das allein ist eine Revolution: Bis Ende der 70er-Jahre gab es in China gar keine Juristen, sondern nur eine Klassenjustiz. Mühsam wurden in den 80er-Jahren die ersten Lehrgänge für Richter und Staatsanwälte aufgebaut, bis sich endlich, im Zuge der Einführung der Marktwirtschaft in den 90er-Jahren, ein modernes Rechtswesen zu entfalten begann. Doch noch einmal vergingen Jahre, bis sich die Volksrepublik 1996 ein Rechtsanwaltsgesetz gab, das den Anwaltberuf aus der staatlichen Bürokratie ausgliederte und als freien Beruf etablierte. Erst jetzt konnte ein unabhängiger Anwaltsstand entstehen. Seine zwei männlichen Vertreter im Haidianer Volksgericht erfüllen ihre Aufgabe mit Ernst und Eifer. Nur die schwarz kostümierte Dame in ihrer Mitte versucht erst gar nicht, ihren Charme im Gerichtssaal zu versprühen.

„Bei Strafprozessen haben wir keine Chance. Der Richter macht, was er will“, schimpft Yang Jun Chang später im privaten Kreis der Angehörigen der Verurteilten. Die engagierte Juristin meint ganz genau zu wissen, wie sich die alten Verfahrensmethoden hinter den Kulissen auch heute noch durchsetzen „Ich selbst war nach dem Studium bei der Polizei. Dort sagte man mir: Alle, die im Verhör vor dir sitzen, sind Verbrecher“, erzählt Yang. „Das war der Grund, warum ich Strafverteidigerin geworden bin.“

Yang hat nicht den leichten Weg gewählt. Als Wirtschafts- und Zivilrechtsanwaltin wird man in Peking heute schnell reich. Als Strafverteidigerin muss man oft lange auf den ersten Freispruch warten und bleibt arm. Und doch berichten die chinesischen Zeitungen heute täglich von erfolgreichen Strafanwälten. Da gibt es den Anwalt in Nanking, der einen armen Bauern vor der Todesstrafe rettet. Da klagt ein Pekinger Anwalt im Namen der Angehörigen von Opfern der Polizeigewalt. Natürlich will eine Frau wie Yang noch mehr: zum Beispiel längere Sprechzeiten mit den Angeklagten oder größere Einsichtsrechte in die Gerichtsakten. Doch gerade ihre Unzufriedenheit verspricht der chinesischen Rechtsentwicklung weiteren Erfolg: Ohne Wut kein Weg zur Gerechtigkeit.