Gar kein so schlechter Kerl

Der Bundestagsabgeordnete und frühere Weizsäcker-Vertraute Friedbert Pflüger wollte ein unabhängiger Politiker sein, doch er hat sich wie alle anderen in Kohls System verheddert. Sein Buch erzählt die Geschichte eines persönlichen Scheiterns und eines verpassten Neubeginns

von NORBERT SEITZ

Es dauerte bis 12.48 Uhr, ehe am Eröffnungstag des jüngsten Essener CDU-Konvents das erste Mal von Kohls System überhaupt die Rede war. Spötter wandten sofort ein, der Redner Friedbert Pflüger habe mit seiner Erwähnung mehr Geschäftssinn für sein neues Buch als Aufklärungsdrang für seine Partei bewiesen. Immerhin kam er in den neuen Bundesvorstand, was Arnold Vaatz mit seinem rührseligen Bekenntnis „Ich bin Helmut Kohl aus tiefstem Herzen dankbar“ nicht vergönnt war. Pflüger hatte unter Kohl den Karrieresprung nicht geschafft, nicht schaffen können, wie man ehrlicherweise zugeben muss. Denn wer einmal Weizsäckers Friedel war, der konnte Kohls Berti nicht mehr werden.

In seinem neuen Buch müht sich Pflüger redlich, das System zu beschreiben, ohne in die peinliche Opferrolle zu schlüpfen. Schließlich hat ihm Kohl zu Beginn der Achtzigerjahre einmal gesagt, er sei ein guter Mann – habe aber einen Fehler: er diene dem falschen Politiker, Richard von Weizsäcker. Schublade zu! Damals begann die Karriere des jungen Pflüger im Pressereferat des damaligen Regierenden Bürgermeisters von Berlin. Dabei wäre es vielleicht sogar geblieben, hätte nicht Kohls treue Seele Juliane Weber dem Kanzler immer wieder deutlich gemacht, „dass ich gar kein so schlechter Kerl sei, wie er immer meine“. So schaffte Pflüger nach seiner Zeit bei Weizsäcker immerhin den Sprung in den Deutschen Bundestag.

Damals galang es dem jungen Kohl sehr rasch, Pflüger, den prüfenden Wortführer des RCDS, in einen gläubigen Kohlianer zu verwandeln. Mit Flaumbart und Schlaghose holte sich der kämpferische Studiosus faule Eier in fanatisierten Hörsälen ab und diente dabei als willkommener Kronzeuge im hypertrophen Heldenspiel des damaligen Oppositionsführers Kohl gegen linke Asten mit Juso-Beteiligung.

Auf Strümpfen und in Strickjacke wurde Pflüger im Kanzleramt 1983 bei einem trockenen Rheingauer empfangen. Kohl wollte ihn aus der Präsidentengruft locken mit einem Spitzenjob im Planungsstab des Konrad-Adenauer-Hauses. Doch Pflüger behielt Schuhe und Jacke an und lehnte ab. „Danach hat Kohl seine Kontakte zu mir abgebrochen. Ich war Luft für ihn.“ Eine zweite Chance erhält man in seinem System nicht. Stattdessen empfing er bei Weizsäcker seinen „Impfschutz gegen die Verführungen von Macht und Anpassungen im System Kohl.“ Die Wirkung des Serums hält indes nicht ewig, nachdem Pflüger beschlossen hat, Parlamentarier und Querdenker zu werden. Beides zusammen ist nämlich unter Kohl nicht systemkompatibel.

In der historischen Bonn-Berlin-Debatte am 20. Juni 1991 macht Pflüger eine gute Figur bei seiner Jungfernrede für Bonn und gegen Kohl (aber auch gegen Weizsäcker). Im Sommer 1993 gerät er allerdings in die Rolle des Außenseiters, weil er sich offen gegen Steffen Heitmanns Präsidentschaftskandidatur auflehnt. Er hält mutig durch und entgeht nur knapp einer Prügelstrafe auf der heimischen Landesliste. Auch wenn Pflüger sich häufiger mit seinem Kanzler anlegt, kämpft er dennoch unverdrossen um einen der dreißig parlamentarischen Staatssekretärsposten. Diese Position „war die Wurst, die er uns ständig vor die Nase hielt“. Doch Pflüger muss erkennen, dass ihm diese Fleischzulage verwehrt bleiben würde.

Bei der konstituierenden Sitzung des Bundestags am 10. 11. 1994 erlebt er sein persönliches Fiasko. Denn die Fraktion beschließt, während der Rede des Alterspräsidenten Stefan Heym (PDS) demonstrativ sitzenzubleiben. Er ringt mit sich, doch „wie gelähmt bleibe ich sitzen“. Bis heute ist er mit Recht beschämt über seine Mutlosigkeit, bekundet aber genauso offen, dass ihm die Überlegung durch den Kopf gegangen sei, ob es sich lohne, „seine Karriere für so jemanden auf Spiel zu setzen“. Also nahm Pflüger lieber eine Rufschädigung als Feigling in Kauf. „Ich habe immer wieder versucht, mich gegen dieses System aufzulehnen, aber mit der Zeit nimmt die Kraft zum eigenständigen Denken etwas ab.“

Auch wenn Kohls Demokratur immer autokratischer, seine Haltung immer monolithischer und sein Stil immer autistischer wurde, will Pflüger 1998 nicht abseits stehen, als es darum geht, Kohl für eine weitere Kanzlerkandidatur zu ermuntern. „Wir brauchen den Alten noch eine Weile.“ Seine Haltung gegenüber dem Großen Vorsitzenden bleibt selbst dann noch ambivalent, als Kohl in die Spendenaffäre gerät und seine Partei in den Abgrund zu reißen droht. Er möchte den „Frontalangriff auf das Lebenswerk“ des Langzeitkanzlers nicht hinnehmen. Die Union dürfe sich Kohls „historische Größe nicht aus der Hand schlagen lassen“, tönt er vor seiner Landesgruppe. Die erzwungene Niederlegung des Ehrenvorsitzes nennt er eine „Unverfrorenheit“ seiner Partei.

Man kann wohl die mit der Kohl-Demontage einsetzenden Kastrationsgefühle von machtverwöhnten Christdemokraten kaum besser beschreiben, als Pflüger dies tut: Er fühlt sich, „als habe man ein Teil von mir abgetrennt“. Derweil denkt das Parteivolk in seinem Wahlkreis Wolfenbüttel anders: Kohl habe „es doch nur gut gemeint. Ohne das Geld wären die Roten an die Macht und die Wiedervereinigung nie gekommen. Ohne Helmut säßen die Ossis doch immer noch im Trabi.“ Doch diese Stimmung herrschte nur zu Beginn der Affäre. Danach fällt Kohls Schatten auch nach Wolfenbüttel.

Der Autor studiert gewissenhaft die Mechanismen der Kohlschen Machterhaltung und stößt dabei doch nur auf die Bauernschläue eines hinterfotzigen Dorfbürgermeisters, der interne Kontroversen in der Sommerpause vorbereitet, Kritiker aus den eigenen Reihen in die Ecke stellt, Entscheidungen bis zur letzten Minute offen hält oder sich zum ersten Förderer seines im Genick sitzenden Nachfolgekandidaten macht. Der Altmeister würde wohl sagen: Es ist in der Politik wie im Leben. Darüber hinaus lesen sich Pflügers Lehrsätze zur Machtpolitik Kohls wie aus einem Führungsschnellkurs für künftige Abteilungsleiter: vertraute Essensrunden mit Mitarbeitern, Gewährung kleiner Gefälligkeiten, die Förderung guter Leute oder die Verpflichtung auf Dankbarkeit.

Zum brisanten Kern des Systems stößt Friedbert Pflüger mit solchen eher braven Betrachtungen nicht vor: Das platterdings Mafiöse und die vermuteten Formen der pekuniären Loyalitätssicherung bleiben ausgespart, zumal der Autor eine Geldfixierung seines langjährigen Vorsitzenden in Abrede stellt: „Ich glaube nicht, dass Geld im System Kohl besonders wichtig war.“

Pflügers Generation avancierte inzwischen zu Kriegsgewinnlern der Kohl-Affäre, auch wenn für Pflüger selbst nicht viel dabei heraussprang. Vielleicht wollte er deshalb wenigstens einmal der Allererste in der Union sein – und flog an der Seite des CSU-Abgeordneten Michael Glos zum frisch gebackenen Kanzler Schüssel nach Wien. Die angestrebten Bonuspunkte erzielt man damit jedoch nicht.

Friedbert Pflüger: „Ehrenwort. Das System Kohl und der Neubeginn“. DVA, Stuttgart 2000, 240 Seiten, 36 DM