Fußball als Symbol

Der Uefa-Sieg von Galatasaray löste bei den Türken in Deutschland beispiellose Freude aus. Doch äußerte sich da kein Nationalismus. Es war Protest: gegen Ausgrenzung und Assimilationsdruck

von ÖMER ERZEREN

Auf Deutschlands Straßen hupten, feierten und tanzten fast alle Türken. Galatasaray aus Istanbul hatte Arsenal geschlagen. Zum ersten Mal hatte eine türkische Mannschaft den Uefa-Cup gewonnen. In der Nacht vom Mittwoch zum Donnerstag kannten die Türken auf dem Ku’damm keine politischen Parteien.

Da waren brave, anständige, im deutschen Diskurs „integrierte“ Deutsche dunkler Hautfarbe, die den etablierten Parteien im Bundestag ihre Stimme geben. Da waren die türkischen Faschisten mit ihren Flaggen. Da waren Kurden, die der PKK anhängen. Da waren fromme, konservative Muslime, die politisch nicht aktiv sind, ebenso wie Militante des politischen Islam. Der Ku’damm kannte keine Klassen. Da waren dynamische Jungunternehmer mit funkelnagelneuen Jaguars, BMWs und Mercedessen. Da waren die Kleinhändler, die sich selbst ausbeuten, in ihren Karren, mit denen sie die Einkäufe für ihre Bude erledigen. Da waren Arbeiter und Selbstständige.

Der Ku’damm kannte auch keine Fußballvereine mehr. Die Fahnen Fenerbahces schwenkend, stimmten die Fans des Istanbuler Erzrivalen von Galatasaray in den Begeisterungssturm ein. Mit offenen Armen wurden sie empfangen. Last, not least kannte der Ku’damm keine Geschlechter. Ein ungeheuer hoher Frauenanteil war unter den Feiernden.

Was hat die Dicke im Kopftuch mit dem aufgetakelten Disko-Mädchen gemein? Was eint den türkischen Nationalisten und den Kurden? Warum fegt Galatasarays Sieg alle politischen und sozialen Differenzen hinweg? Warum jubeln alle, wenn die türkische Flagge auf öffentlichen Plätzen gehisst wird?

In den auflagenstarken großen Tageszeitungen in der Türkei findet sich hin und wieder eine kritische Aufarbeitung des Massenjubels. Um die totale nationale Identifikation nach dem ersten gewonnenen europäischen Fußballcup einer türkischen Mannschaft zu erklären, wird auf die politische Geschichte der Türkei hingewiesen, die sich als Republik der Modernisierung verschrieben hat, sowie auf das zwiespältige türkisch-europäische Verhältnis. In Deutschland hingegen wird gar nicht erst versucht aufzuarbeiten, was in der Nacht vom Mittwoch zum Donnerstag passierte. Höchstens wird freundlich angemerkt, dass die Türken friedfertig in deutschen Großstädten gefeiert hätten. Die deskriptiven Artikel über und Bilder von türkischen Fans entlocken dem deutschen Medienkonsumenten allenfalls ein Lächeln über die Ausgeflipptheit der türkischen Fußballanhänger. Damit wird die Bedeutung des Ereignisses vollkommen verkannt: Nach dem Sieg Galatasarays statuierte die türkische Community eindeutige politische Signale, die nur im Zusammenhang des Einwanderungslandes Deutschland verständlich werden.

Die türkische Flagge war nicht Ausdruck nationalistischer Formierung. Das Getto vollzog eine friedliche politische Manifestation. Eine Manifestation der Minderheitsgesellschaft gegen die Mehrheitsgesellschaft. Eine Manifestation nicht nur gegen den deutschen Staat, sondern gegen Deutschland in seiner gesellschaftlichen Verfasstheit schlechthin. Zu den Feiernden des Gettos, die den Ku’damm für sich hatten, weil die Deutschen den Rückzug angetreten hatten, hätten sich gut Nigerianer, Polen und Vietnamesen hinzugesellen können. Von symbolischer Bedeutung auch der einzige Anlass, der das Aggressionspotenzial freisetzte: ein paar Dutzend Polizisten in Kampfanzügen. Sofort flogen auf sie Büchsen und Steine. Die Polizei bezog nicht nur als Gehilfe der Staatsmacht die Prügel, sondern auch als Symbol einer Gesellschaft, die auch durch den Rassismus konstituiert wird.

Der Sieg von Galatasaray straft klipp und klar die deutschen Ideologen und Hofkanaken Lügen, die angebliche Assimilationsfortschritte als erfolgreiche „Integration“ verkaufen. Die migrationspolitische Debatte sollte sich dem Fußball zuwenden. Es bedarf eines lauten Schreies: Die Integration der Migranten kann nach dem Uefa-Finale für gescheitert erklärt werden. Und verantwortlich dafür sind weder türkische Bauern noch vietnamesische Arbeiter. Verantwortlich dafür ist die deutsche Politik.

Rassismus und Xenophobie treiben ihr Unwesen in jeder modernen Gesellschaft, so auch in Deutschland. Doch der politische Umgang mit der Migration, die seit den Fünfzigerjahren Teil der deutschen Gesellschaft ist, hat das heutige Trümmerfeld verursacht. Man kann eben nicht ungestraft über Jahrzehnte Einwanderung fördern und gleichzeitig leugnen und selbst bei Übersetzungen englischsprachiger Bücher ins Deutsche aus „immigrants“ „Gastarbeiter“ machen. Als es dann mit der neuen Koalition an die Revision des Kurses ging, wurde ein verhängnisvoller Weg eingeschlagen, der damit endete, dass Rot-Grün vor der Kampagne der CDU zurückwich. Rassistische Ausgrenzung im Lebensalltag erfahren Migranten ohnehin. Will der Staat relativen politischen Frieden, dann darf die zweitstärkste politische Partei des Landes nicht eine Unterschriftenaktion gegen die doppelte Staatsangehörigkeit oder eine Kampagne „Kinder statt Inder“ starten. Diese Kampagnen haben nachhaltig das Verhaltnis der Migranten zu Deutschland traumatisiert.

Geschichte rächt sich. Die Deutschen haben bei dem Versuch, die Menschen von Gastarbeitern zu „integrierten Bürgern“ umzuklassifizieren, Politik ohne die Betroffenen gemacht. So, wie der indische Computerfreak nicht gefragt wurde, ob er überhaupt ins trübe Deutschland kommen will, statt nach Silicon Valley auszuwandern, so fand auch die Debatte bei der Reform des Staatsangehörigkeitsrechts ohne die Migranten statt. Die erfolgreiche Kampagne der CDU und der anschließende faule Kompromiss haben die Atmosphäre restlos vergiftet.

Da sollen junge Menschen zwischen dem türkischen und dem deutschen Pass entscheiden. Der Staat verlangt die Assimilation. Doch müßig ist es, dem messerstechenden Skinhead einen deutschen Personalausweis hinzuhalten, wenn der Name Ahmet heißt. Angesichts des herrschenden Rassismus können die Migranten ihre kulturelle Identität nicht abstreifen, selbst wenn sie es wollen. Gesellschaft und Medien ethnisieren, und der deutsche Rassismus konstruiert den feindlichen Fremden, während der Staat parallel dazu Loyalität in Form von Assimilation einklagt. Das Ergebnis ist die politische Manifestation nach dem Uefa-Sieg Galatasarays, wo auch Inhaber deutscher Pässe türkische Flaggen schwenkten – nicht wegen ihrer Verbundenheit mit der Türkei, sondern aus Protest gegen Deutschland, das sie zu Türken konstruiert. Der Stempel des Fremden ist Geist und Körper aufgedrückt, bis zum Tode gibt es kein Entrinnen – egal welche soziale oder berufliche Karriere das Leben begleitet. Der Sieg Galatasarays war der Sieg derer, die diesen verrufenen Stempel nun öffentlich und in aller Ehre tragen. Sie schrien „Türkiye, Türkiye!“. Und auch der Autor dieser Zeilen schloss sich ihnen an mit dem Schlachtruf „Yașasin Taffarel!“ – „Hoch lebe Taffarel!“ (der brasilianische Torwart von Galatasaray).

Hinweise:Es bedarf eines lauten Schreies: Die Integration ist gescheitertDer Stempel des Fremden wird Geist und Körper aufgedrückt