Lasst das Heim im Dorf

Die Jugendlichen erinnern den Landrat an das tolerante Brandenburg. Der Heimleiter filmt seine Gäste – wer weiß, wie lange sie bleiben

aus LauchhammerTHOMAS GERLACH

Holger Bartsch hat einen riesigen Batzen vor sich liegen. Umsichtig mischt er das Geld, teilt den Berg, schiebt die Häuflein zur Seite, mischt von neuem, Häuflein zur Linken, zur Rechten. Bartsch, silbrige Haare, gepflegter Schnauzbart, Willy-Brandt-Buch im Regal, redet und redet, zwischendurch greift er zur Brille. Fehlt auch nichts? Mit Armen und Händen knetet er das Geld, formt Berge, geräuschlos und routiniert. Nichts fällt nach unten. Die Bewegungen stimmen, nur die Tischplatte ist leer. Trockenübung. Welcher Landrat hat schon Geld? Holger Bartsch (SPD) ist Landrat in Senftenberg, Chef des Landkreises Oberspreewald-Lausitz. Mehr ist nicht zu sagen. Fast nicht. Holger Bartsch klappt die Lesebrille zusammen. „Wir haben die Sache mit dem Asylbewerberheim am Anfang nicht ernst genommen, sonst hätten wir schon eine andere Alternative gesucht.“

Das Heim wird schließen

„Scharf ist schön!“ Opa freut sich, mehr Worte braucht der Afghane nicht. Ob Opa wohl den Landrat kennt? Holger Bartsch war vor einiger Zeit die 20 Kilometer nach Lauchhammer gefahren, hat die drei alten Häuser betrachtet, die Toiletten, die Küchen, hat nach Brandschutztüren gesucht und keine gefunden. Eine Sanierung wäre nötig. Und ein Batzen Geld. Das Asylbewerberheim wird schließen. Nicht morgen, nicht übermorgen, aber bald. Der Landkreis hat noch ein zweites Heim, da können die aus Lauchhammer hin. Auf einem Dorf. Nein, in einem Kiefernwald hinterm Dorf, eine ehemalige Russenkaserne, eingezäunt, gut bewacht, weit weg von den Dorfbewohnern.

„Scharf ist schön!“ Opa trägt einen Ring mit einem Türkis an der rechten Hand. Jedes Mal wenn er aus dem Colabecher trinkt, blinkt der Stein. Und er blinkt oft. Zwischendurch spießt Opa mit der Gabel Fleischröllchen auf, nimmt einen Löffel Kartoffelsalat, probiert den Kuchen. Das Bärtchen hüpft unter der Nase. Oma sitzt über den Teller gebeugt, das Kopftuch straff gebunden, am Handgelenk leuchten zwei Reifen. Schweigsam genießen die beiden Asylbewerber das Fest und das Essen. Das Landratsamt ist heute Abend so weit weg wie Kabul. Oder Nairobi. Sheila aus Kenia ist laut: „All the people in Heim we love you so much!“ Sheilas helle, volle Stimme übertönt alles, die 30 Leute, das Geklapper, die Musik, das Lachen, ihren Sohn Alvan, die anderen Kinder, einfach alles. Viola Weinert hat heute Geburtstag, steht wie eine Preisträgerin im Raum und wundert sich, was die Heimbewohner aus zwölf Gläsern Gewürz und neun Bund Zwiebel alles zubereitet haben. Fadul aus dem Sudan hängt ihr eine Weste aus Jute um. Mr. President, also Daniel aus Togo, beobachtet still aus der Ecke, die Augen rollen, die Glatze strahlt. Was die edle Geste betrifft, steckt der Hüne den Bundespräsidenten, den Kanzler, den Ministerpräsidenten und den Landrat locker auf einmal in die Tasche. Was den Pass betrifft, nicht.

Jan, Romy, Susi, Stephanie, Eve und noch eine Handvoll anderer Jugendlicher von der Initiative „Chill out“ aus Lauchhammer sitzen zwischendrin, mit roten Haaren und Piercing, lachen, essen, trinken Bier oder Cola und hoffen, dass das alles noch lange so bleibt. Und da das keiner so genau weiß, kommt Heimleiter Ralf Schwieger mit der Videokamera hereingetänzelt und hält überall drauf, als ob er alles einsammeln will: Mr. President und Sheila, Alvan und Stephanie, Jan und Romy, Eve und Susi, Oma und Opa und Sozialarbeiterin Grossmann, die behutsam lostanzt, und den Discjockey und Fadul mit dem provokanten Lachen, und wer da alles ist und wie sie auch heißen – alles verschwindet in der Kamera, und das Mikro saugt Töne, Lacher, Rhythmen auf, Hot Chocolate und Bob Marley „Get up, stand up, fighting for your rights“. Alles im Kasten. Und wenn das nicht Wirklichkeit wäre in Lauchhammer in Südbrandenburg, einen Steinwurf weg von Hoyerswerda und zwei von Guben, gäbe es dafür nur ein Wort: Multikulti-Kitsch.

Vielleicht ist alles Zufall. Das Heim liegt in der Stadt und nicht im Wald, die Zahl seiner Bewohner ist überschaubar, nebenan ein Jugendclub und Heimleiter Ralf Schwieger weit mehr als ein Verwalter. Susi, Stephanie und Eve gehen in Lauchhammer zu Schule, Jan arbeitet als Tischlerhelfer, Viola Weinert ist Lehrerin und Kreistagsabgeordnete der PDS.

Vor zwei Jahren ging’s los: Fadul wurde in Lauchhammer krankenhausreif geschlagen. Die Leute vom Jugendclub wollten das nicht auf der Stadt sitzen lassen, kamen neugierig zu den Asylbewerbern, besuchten Fadul im Krankenhaus, gingen ins Heim. So entstehen Freundschaften, auch anderswo. „Diese Freundschaften möchten wir nicht missen, sie bereichern auch unser Leben. Schule und Kindergarten, Gesundheitseinrichtungen und Einkaufsgelegenheiten sind in Lauchhammer schnell erreichbar. Warum will man das den Menschen nehmen, indem man sie in den Wald schickt?“, fragten Eve, Susi, Stephanie und die anderen im September in einem Brief den Kreistag. Das Heim sollte geschlossen werden, die DVU bekam bei den Landtagswahlen über sieben Prozent in der Region. „Chill out“ wollte was tun. Das Heim bleibt!

Vielleicht hatte der Landrat gehofft, die Jugendlichen würden nicht so hartnäckig bleiben? Ein bisschen abwarten, ein bisschen ignorieren, ein bisschen Tagesgeschäft – aussitzen eben. Die Leute von „Chill out“ fingen an, Unterschriften für das Heim zu sammeln, bis Oktober hatten sie schon über 400 zusammen. Der Bürgermeister der 21.000-Einwohner-Stadt versprach Unterstützung, Sponsoren schickten zu Weihnachten Geschenke ins Heim. Die Initiative schrieb an Kreistagsabgeordnete, verteilte Zettel.

Die Politiker witterten Widerstand

Zum Karnevalsbeginn am 11. 11. 1999 blieben den Volksvertretern die Pfannkuchen im Halse stecken. Nach Büttenreden, Musik und der Auszeichnung „Unser Dorf soll schöner werden“ traten zwei „Chill outs“ ans Mikrofon und hielten den Parlamentariern die Leitbilder des Konzepts „Tolerantes Brandenburg“ unter die Nase, eine Idee der Landesregierung: Recht, Toleranz, Solidarität. Einwohnerfragestunde? Dass es bei ihnen so etwas gibt, hatten einige Abgeordnete sicher schon vergessen. Da werde Widerstand organisiert, rief einer. Wer ist das Volk?

Wie ein Schlachtross steht der Hometrainer in Sheilas Zimmer. Eigentlich braucht sie sowas nicht. Sie wirft die Videokassette in den Schacht, drückt den Knopf. Jetzt flimmert Holger Bartsch ins Zimmer, puppenklein und hinter Glas. Er wehrt sich. „In diesem Geschäft ... oder in dieser Aufgabe, die ich habe als Landrat, muss ich auch übers Geld reden. Ohne Geld können wir Lauchhammer nicht sanieren!“ ORB-Streitgespräch. Susi, Fadul, Eve, Nickson, Romy, Sheila, Alvan, alle sind dabei. Nickson aus Karthoum spricht in die Kamera: „Wir haben hier in Lauchhammer deutsche Toleranz erfahren!“ Applaus. Werbung für Lauchhammer, für den Landkreis, für ganz Brandenburg. Andere bezahlen dafür Geld.

Die Asylbewerber haben viele Freunde hier gefunden, Holger Bartsch hat nur einen: Ingo Senftleben, CDU-Youngstar aus Lauchhammer und Landtagsabgeordneter. Senftleben, Anzug und Bürstenschnitt, hat ein Gesicht wie die Leute von „Chill out“ und die Zunge von Helmut Kohl: „Solch eine Atmosphäre wie in Lauchhammer kann es auch in einem anderen Standort geben.“ Die Jugendlichen hatten Senftleben in der Hoffnung geschrieben, ein 25-Jähriger werde sie vielleicht eher verstehen. Auf einem CDU-Vordruck („Mitten im Leben“) bedankte er sich bei den „Damen und Herren“: „Die geschilderte Thematik ist natürlich in angemessener Form zu analysieren und muss unter Abwägung aller Fakten zu einer vernünftigen Entscheidung geführt werden.“ In einem früheren Gespräch empfahl er den „Chill outs“, dass sie sich doch den Spätaussiedlern zuwenden sollen. Freundschaften lassen sich nicht verlegen wie eine Fraktionssitzung.

Der Landrat ist unten durch

Schnee auf dem Bildschirm, die Kassette ist aus. Sheilas Bruder lebt in Australien. Hatte er was gehört von Rathenow, Eberswalde, Guben? Als er neulich anrief, fragte: „Was ist los in Brandenburg? Hast du keine Angst?“, antwortete Sheila: „No! Ich bin doch in Lauchhammer!“

Holger Bartsch ist bei „Chill out“ unten durch. Schon lange. „Wir haben die Sache mit dem Heim am Anfang nicht ernst genommen.“ Nun soll es für die Asylbewerber eine neue Bleibe in Lauchhammer geben. Wo genau, ist noch nicht klar. Leer stehende Häuser gibt es genug. „Man kann auch sagen, dass das unter dem Druck geschehen ist.“ Holger Bartsch reibt mit der Hand über den Tisch. Keine Taler, kein Häuflein, spiegelblank. Es gibt größere Probleme für einen Landrat. Die Kommunalaufsicht hat den Haushalt 2000 gestoppt, zu viele Schulden. Alle Investitionen liegen auf Eis. „Ich versuche mich jedenfalls selbst zu fragen: Bist du schon so abgebrüht, oder habe ich mir das Gefühl bewahrt, dass ich die andere Seite argumentativ verstehe?“ Selbstgespräche? Eine Antwort gibt es heute nicht. Dafür eine Politikerfrage: „Was passiert, wenn der Erste abgeschoben wird?“ Holger Bartsch ist wieder in seiner Wirklichkeit angekommen. Die Reise nach innen ist für heute beendet.

Die Asylbewerber bleiben. Heimleiter Ralf Schwieger packt die Kamera aus, hält drauf, und alles purzelt wieder raus: Mr. President aus Togo, Alvan und Sheila aus Kenia, Nickson aus Karthoum, Eve, Susi, Jan und Romy, der Hausmeister, Fadul und wie sie alle heißen. Rhythmen setzen ein, Bob Marley singt. Zum Schluss kommen Oma und Opa, die mit dem Mund schweigen und mit den Augen reden können. Und Opa ist ganz stolz, dass ihn alle so nennen. In den afghanischen Bergen wäre er längst Dorfältester. Und das ist weit mehr, als ein Landrat je sein kann.