Die große Angst vor der Diskussion

Weder Joschka Fischers Vorstellungen noch die Kritik aus Frankreich lösen in Europa groß Reaktionen aus – denn vor einer kontrovers geführten Grundsatzdebatte scheuen sich alle

BRÜSSEL taz ■ Nun hat also „das andere Frankreich“ gesprochen. Erstaunlich spät eigentlich. Eine Woche lang konnte der deutsche Außenminister ungestört die Lorbeeren für seine ganz privaten Gedanken über die Zukunft Europas einheimsen – es wird ihm vielleicht selbst unheimlich gewesen sein. Der Ausflug ins Private, der inoffizielle Rahmen vor Studenten der Humboldt-Universität, war ja nicht zufällig gewählt. Das Außenamt hielt Fischers Thesen für so brisant, dass den anderen europäischen Regierungen signalisiert werden sollte: Der Homo politicus Fischer hat laut gedacht. Ein Antrag zur Tagesordnung fürs nächste Außenministertreffen soll daraus ganz sicher nicht werden.

Erstaunlich dennoch, dass außer freundlichem Beifall und wohlwollender Zustimmung von Fischers Amtskollegen und anderen europäischen Politikern kaum Reaktionen kamen. Selbst die EU-skeptischen Briten, denen föderale europäische Strukturen ein ähnlicher Gräuel sind wie geschriebene Verfassungen, reagierten erstaunlich gelassen auf den Vorstoß in Richtung europäischer Bundesstaat mit Verfassungsvertrag, vom Volk gewähltem Kommissionspräsidenten und Zwei-Kammer-System.

Der französische Innenminister Chevènement sprach eine Woche nach der Fischer-Rede endlich aus, was viele Nachbarn umtreibt – nicht nur in Frankreich: Soll demnächst wieder an deutschen Modellen die Welt genesen? Kommt da ein deutscher Politiker und sagt uns, wie viel von unserer nationalen Souveränität entbehrlich zu sein hat? Als sich gestern in Brüssel die europäischen Außenminister trafen, war also die Katze aus dem Sack. Was aber taten die Herrschaften? Sie schnürten den Sack ganz schnell wieder zu und gingen zur Tagesordnung über.

Gerade Frankreich nimmt in dem typisch europäischen Spiel zwischen visionären Fensterreden und kleinlich-nationalegoistischem Tagesgeschäft eine besonders schizophrene Rolle ein. Wann immer die EU den Versuch unternimmt, das Stadium der Milchquoten und Exportbeihilfen zu überwinden und von einem Subventionsverteilungsverein zu einer politischen Gemeinschaft zu werden, drückt Frankreich auf die Bremse.

Nun sind die Franzosen aber selber mit dem Präsidieren an der Reihe. Da kommen ihnen die beflügelnden Gedanken aus dem Nachbarland gerade recht. Wenn Fischer so bereitwillig Superbenzin für den deutsch-französischen Motor zur Verfügung stellt, darf der französische Innenminister nicht ungestraft Zucker in den Tank schütten.

Doch Jean-Pierre Chevènement wartet nach seiner Provokation genauso vergeblich auf den Aufschrei der Entrüstung, wie der von ihm gerüffelte Joschka Fischer es eine Woche zuvor tat. Die Außenminister lächeln diplomatisch, kommentieren weder das eine noch das andere und gehen zum Tagesgeschäft über. Denn sie wissen alle ganz genau: Eine Grundsatzdebatte könnte den Zeitplan für die geplante Reform und die Aufnahme neuer Mitglieder ins Rutschen bringen. Eine solche Krise will niemand herbeireden – die Franzosen am allerwenigsten. DANIELA WEINGÄRTNER