Kerneuropa spaltet Paris

Frankreichs Innenminister Chevènement gerät nach heftigen Angriffen auf Joschka Fischers Europapläne unter Beschuss. Die Bundesregierung will keine Stellungnahme abgeben

PARIS taz ■ Falsche Worte über Deutschland haben den französischen Innenminister unter Beschuss gebracht und in Berlin für Verwunderung gesorgt. Der sozialistennahe Jean-Pierre Chevènement hatte Fischers föderale Europapläne kritisiert und sie damit erklärt, dass „bestimmte Kreise in Deutschland“ noch nicht von der „historischen Engleisung des Nationalsozialismus genesen“ seien.

Seit Chevènement am Sonntagabend so im französischen Fernsehen sprach, fordern die Pariser EU-Freunde im rechten und linken Lager seinen Kopf – allen voran der rechtsliberale Ex-Staatspräsident Valéry Giscard d'Estaing und der grüne Europaabgeordnete Daniel Cohn-Bendit. Während der Vorsitzende der größten Regierungspartei, PS, François Hollande, Chevènements Worte als „zulässige Analyse“ rechtfertigte, warteten EU-Skeptiker sowie die Spitzen von Staat und Regierung in Paris schweigend ab. Auch im Außenministerium in Berlin hüllte sich die Sprecherin in Schweigen: „Das kommentieren wir nicht.“

Wenige Wochen vor dem Beginn der französischen Ratspräsidentschaft ist es damit zu einem Eklat gekommen, dessen Ausgang richtungsweisend für die EU-Entwicklung sein könnte. Chevènement versicherte gestern, dass er „Deutschland und die Deutschen“ liebe und Europa wolle, doch nahm er nichts von seiner Kritik an dem föderalen Konzept zurück. Ein zweigeteiltes Europa, durch das „eine Mauer aus Geld“ verlaufe, wolle er nicht, sagte Chevènement, bezogen auf Joschka Fischers Vorschlag für ein „Gravitationszentrum“, das Europa politisch vorwärts bringen sollte. Am Abend interpretierte er seine eigenen Worte in einer persönlichen Erklärung bei der Deutschen Presse-Agentur weiter um: Der Nationalsozialismus sei „in keiner Weise eine zwangsläufige Phase der deutschen Geschichte“ gewesen, sondern „lediglich ein Unfall“. Deutschland müsse einen „Weg in Richtung des Begriffes der Bürgernation“ finden: Das Staatsbürgerrecht 1999 sei dafür ein Anfang, erklärte er.

Chevenement ist der letzte erklärte Föderalismusgegner in der rot-rosa-grünen Pariser Regierung. Seine Ministerkollegen haben das Modell einer Föderation mit einer Verfassung und zwei Kammern dagegen ausdrücklich unterstützt. Sollte Chevènement gehen müssen, blieben allein jene in der Regierung zurück, die der von Berlin gewünschten Entwicklung nichts entgegensetzen – auch wenn das bei den Franzosen höchst umstritten ist.DOROTHEA HAHN

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