westpakete, schokoriegel etc.
: Das Bundesarchiv in Lichterfelde setzt ganz auf Dienstleistung

NUMMER 63 LIEST

Die Anreise aus Friedrichshain dauert mit den öffentlichen Verkehrsmitteln gut eine Stunde. Im Bus vom S-Bahnhof Sundgauer Straße fallen die vielen älteren und adrett gekleideten Damen auf. Wo die wohl hinwollen? Ins Bundesarchiv nicht, da steigen meist Leute zwischen 20 und 30 Jahre aus, wohl Studenten und Doktoranden. Ich bin heute Nummer 63. Gestern war ich noch der 53. Besucher des Tages, dafür aber auch eine halbe Stunde früher in der Finckensteinallee in Lichterfelde.

Das Bundesarchiv, in dem Verwaltungsakten des Deutschen Reiches und der DDR gelagert werden, setzt ganz auf Dienstleitung. Es öffnet schon morgens um acht, und weil das Bundesarchiv eine Einrichtung des Bundes ist, gibt es Wachpersonal, bei dem sich der „Besucher“ anmelden muss. Ein Schlüssel für den Schrank, in den Jacken und Taschen einzuschließen sind, wird ausgehändigt, die Wachdame kontrolliert auch den Personalausweis. Man könnte ja unangemeldet kommen ...

Erst ist in einem Antrag auf Akteneinsicht das Forschungsthema zu formulieren. Nach rund vier Wochen gibt es Nachricht, ob sich zum Thema überhaupt etwas finden lassen könnte. Die Mitarbeiter empfehlen Akten und bestellen schon mal ein paar, damit der Forscher gleich am ersten Tag seines Archivbesuches Arbeit hat. Dem geht üblicherweise eine sechs- bis achtwöchige Wartezeit auf einen Platz im Benutzersaal voraus, nur manchmal, wenn es schneller gehen muss, kann ein Bittbrief Wunder wirken. Darf man sich also endlich den altrosa Besucherausweis ans Hemd knipsen, heißt es lesen. Die „Verordnung über die Benutzung von Archivgut beim Bundesarchiv“ ist lang, einen Auszug gibt es als Kopie mit nach Hause. Sicher ist sicher.

Im hellen, großen Benutzersaal sitzen viele Forscher mit Laptops und tippen. Alle sind leise. Nur wenige schreiben mit der Hand etwas ab. Die Kopie einer Seite kostet eine Mark. Weil die eine Fremdfirma anfertigt, dauert das zwei Wochen. Das Personal ist kompetent. Lieber zweimal fragen, als einmal etwas verkehrt machen. Nachher kommt die Akte nicht aus dem Lager, nur weil ein blöder Buchstabe auf dem Bestellschein fehlt. Kein Wunder bei diesen Bezeichnungen: DM 3/1096 oder so.

Mit etwas Glück sind die Bestände bereits archivwissenschaftlich erschlossen, und dicke Bücher geben Auskunft, was in den Akten zu finden ist. Hat man Pech, bestellt man sozusagen auf gut Glück, irgend etwas zum Thema lässt sich meist finden. Zum Beispiel der Brief einer 70-jährigen Frau. Die beschwerte sich 1968 beim Minister für Post- und Fernmeldewesen der DDR, denn bereits das dritte Westpaket hatte sie nicht erreicht. „In einem sozialistischen Staat kann man doch den Rentner nicht Geschenkpakete wegnehmen“, schrieb sie.

Neben den DDR-Akten macht es Spaß, die anderen Archivnutzer zu studieren. Die beiden links sind wohl ein Paar. Der nette Typ rechts spielt nervös mit seinem Kugelschreiber herum. Auffällig viele Amerikaner sind da, die in alten DDR-Akten wühlen, aber im Aufenthaltsraum über bundesdeutsche Politik lachen. „Inder“ und „Kinder“ ist zu hören. Dazu essen die Forscher Schokoriegel und trinken Coke aus dem Automaten. Der spuckt auch Kuchen im Miniformat aus, der schrecklich schmeckt. So wie der Kaffee aus dem Automaten. ANDREAS HERGETH

Bundesarchiv, Finckensteinallee 63