ISRAELS ARMEE ZIEHT SICH VORZEITIG AUS SÜDLIBANON ZURÜCK
: Nicht ohne Kalkül

Rückzug. Kapitulation. Flucht. Israels Armee hat den Guerillakrieg gegen die Hisbullah-Miliz im Südlibanon verloren. Die Aufgabe der jahrzehntelang verteidigten Sicherheitszone ist das Eingeständnis der militärischen Niederlage. Ohne Wenn und Aber. Und in dieser Art ist es die erste Niederlage, die eine arabische Guerillatruppe der besten Armee im Nahen Osten beigebracht hat. Israels Ex-Stabschef und amtierender Premier Ehud Barak weiß das.

Aber Barak ist ein gewiefter Taktiker. Politisch und militärisch. Und für ihn gilt, was 1982 nach dem Abzug der Palästinenser aus Beirut für Jassir Arafat billig war: die militärische Niederlage in einen politischen Sieg verwandeln. Gewiss. Derzeit herrschen Chaos und Panik im Südlibanon und im Norden Israels. SLA-Milizionäre und ihre Familien fliehen nach Israel oder ergeben sich triumphierenden Hisbullah-Kämpfern. Aus Israels Norden flüchten die Menschen zu hunderten. Der Grenzstadt Kriyat Schmoneh droht ein Exodus. Alles richtig. Aber im Prinzip durchaus vorhersehbar. Und damit auch zu bewältigen.

Israels forcierter Rückzug aber hat Bewegung in die erstarrten nahöstlichen Fronten gebracht. Das genau ist Baraks Kalkül. Politisch vielleicht nicht ohne Risiko. Auch angesichts der Kritiker in den eigenen Reihen. Aber jetzt liegt es erst einmal an Libanon und Syrien, Attacken auf Israels Norden, sei es von Hisbullah oder versprengten PLO-Fraktionen, zu verhindern. Syrien verliert mit dem israelischen Rückzug überdies das militärische Druckmittel, um Verhandlungen über die Räumung der Golan-Höhen zu eigenen Bedingungen zu erzwingen. Der schwarze Peter liegt im arabischen Feld.

Gerne und beliebig wird jetzt der „militärische Widerstand“ zitiert, um eine erfolgreiche arabische Strategie gegen Israel zu begründen. Der Irrtum liegt auf der Hand. Auch wenn die vergangenen Tage kurz den Anschein geliefert haben mögen, die Palästinenser im Westjordanland und im Gaza-Streifen hätten eine Option à la Hisbullah. Sie haben diese Option nicht. Denn Israels Rückzug ist ein politischer Schachzug, der die arabische Front auf längere Sicht schwächen wird. Uneinigkeiten und Differenzen werden sehr bald ans Tageslicht kommen. Und die syrische Besatzung im Libanon wird ebenso auf der Tagesordnung stehen wie zuvor die israelische. Jassir Arafat weiß, dass der Weg nach Abu Dis nicht einer militärischen Befreiung geschuldet sein wird, sondern nur einem politisch ausgehandelten Einvernehmen zwischen Israelis und Palästinensern. Der Rückzug dürfte auch diese Erkenntnis befördern. GEORG BALTISSEN