Rumsitzen und rauchen

Sie werden vom Sicherheitspersonal herumgescheucht und hängen trotzdem den ganzen Tag hier ab: Jugendliche Cliquen in Ostberliner Einkaufszentren. Eine Studie hat das Phänomen untersucht

von KIRSTEN KÜPPERS

„Na ja, man geht zur Clique hin am Center, dann sagt man jedem erst mal Hallo mit der Hand, nicht einfach so winken, sondern mit der Hand. Dann zündet man sich ’ne Zigarette an und raucht erst mal eine. Guckt sich um, wer alles so da ist, wer am Center vorbeiläuft, wer reingeht, unterhält man sich so. Na ja, und wenn dann noch nicht so viele draußen sind, dann geht man rein, die meisten holen sich ein Bier und trinken, dann stehen wir meistens im Kreis und erzählen über Probleme oder denken uns aus, wie wir Weiber anquatschen können oder was wir partymäßig machen können am Wochenende oder sonst so was alles.“ Klaus, 16 Jahre

Sie sind jung. Sie rauchen, hängen rum. Jugendliche in Einkaufscentern. Sie stehen in der Gruppe und konsumieren wenig. Ein paar Bierdosen, eine Tüte Chips, viel mehr nicht. Die Clique ist immer da. Jeden Tag. Manchmal macht das Security-Personal Ärger. Aber im Center ist es trocken, munter und warm. Wo soll man sonst auch schon hin?

Der Streetworker Stefan Schützler hat das Phänomen jugendlicher Gruppen in innerstädtischen Einkaufszentren Ostberlins untersucht. Dafür hat er über einen Zeitraum von einem Dreivierteljahr Interviews mit Jugendlichen von Einkaufscenter-Cliquen und Center-Managern geführt. Herausgekommen ist eine Studie, die trotz des gehörigen sozialpädagogischen Impetus des Autors die Alltagswelt der untersuchten Jugendlichen realistisch abbildet. Klischees von Gut-drauf-und-Viva-guckenden-Hipstern bleiben draußen. Dafür gibt es viele O-Töne, die das oft so öde Leben als Teenager dokumentieren.

Shopping-Malls sind gerade in den Ostberliner Außenbezirken neu. Nach der Wende wurden sie von Investoren errichtet, um die Servicewüsten in den Plattenbaugebieten wie Hohenschönhausen oder Hellersdorf zu beseitigen. Historisch gewachsene Ladenstraßen gibt es dort kaum. Das Center befriedigt das Konsumbedürfnis der Bevölkerung. Und mit den Kunden kommt auch die Clique der Jugendlichen. Nicht selten gerät deren Freizeitverhalten mit der Hausordnung in Konflikt.

Für Schützler bildet die Einkaufszentrumsclique eine typische Form von Jugendkultur. Jugendkultur, das weiß man spätestens seit deren wissenschaftlicher Erforschung ab den 50er-Jahren, dient immer denselben Zwecken: Junge Menschen erproben in der Clique ihre Persönlichkeit, pflegen Rivalitäten und bahnen sexuelle Kontakte an. Im Einkaufszentrum treffen die Jugendlichen, laut Schützler, nicht nur Gleichaltrige, sondern könnten auch ihrer Konsumhaltung frönen. „Ich geh gerne shoppen, ja“, antwortet der 15-jährige Carsten. Ansonsten wird getrunken und über Mädchen gequatscht. Die meisten Center-Kids sind Mittelschichtskinder. Nur wenige gehen aufs Gymnasium. Cliquen von Punks und nicht deutschen Jugendlichen seien in den Ostberliner Einkaufszentren indes kaum anzutreffen.

Die Zeit zwischen Sommer- und Winterschlussverkauf ist die Lieblingssaison der Center-Kids. Gruppen mit bis zu 40 Mädchen und Jungs sammeln sich in der Shopping-Mall. Alternative Treffpunkte gibt es in Vororten wie Köpenick oder Karow Nord selten. Im Einkaufszentrum stattfindende Nikolausaktionen, Adventsmärkte oder Autoshows helfen, die Zeit totzuschlagen. Trotzdem ist der Pubertätsalltag in der Mall nicht spektakulär. Martin, 15 Jahre, beschreibt ihn als „rumsitzen, rauchen, rauchen, rauchen“. Die Jungs trinken aus Langeweile „Feierabendbier“, die Mädels „Schokolikör“. Nur wenige geben zu, regelmäßig Haschisch zu konsumieren. Andere illegale Drogen werden nicht erwähnt.

Das Interesse der Befragten an Politik ist gering. Die Jugend ist laut Studie uninformiert und durch die gesellschaftliche Entwicklung nach der Wende verunsichert. Viele finden die Bundesrepublik „beknackt“ oder wünschen sich die Mauer zurück, obwohl die meisten die DDR kaum bewusst miterlebt haben. 70 bis 80 Prozent der Jugendlichen, mit denen Streetworker Schützler in seiner Arbeit zu tun hat, wiesen überdies eine „Rechtsorientierung“ auf. Die Mehrheit der Interviewpartner hat die Frage „Rechts/links“ in die Frage „Für/gegen Ausländer“ verwandelt. Diese Frage haben die meisten für sich eindeutig beantwortet, wenn auch wenige sich derart gewaltig bekennen wie der 15-jährige Micha: „Wo wir am ...center waren, da sind wir immer losgezogen ins ...center rein. Und ja, Russen-Keilerei, Türkenklatschen und all so’n Scheiß. Da sind wir mit Baseballschlägern und Knarre reingestürmt. Na ja, gut, dann haben uns dann die Bullen weggepfiffen ...“ Rechtsextremistische Orientierungen würden kolportiert, weil sie einfache Lösungen für komplexe Probleme zu bieten scheinen, schreibt Schützler. Dazu stellten sie ein Tabu dar, mit dessen Hilfe sich Jugendliche vom gesellschaftlichen Establishment und den Eltern unterscheiden könnten. Nichtsdestotrotz erreichten nur wenige eine Haltung, die einen tatsächlichen Anschluss an rechtsextreme Parteien oder Organisationen zur Folge hätte. Schützlers Pragmatismus an dieser Stelle ist bemerkenswert. Offensichtlich sah er sich in seiner täglichen Streetwork-Arbeit gezwungen, rechte Einstellungen bei den Jugendlichen als normal anzuerkennen. Inzwischen nimmt Schützler seine Center-Kids zur politischen Bildung ins Publikum von politischen Fernseh-Talkrunden mit.

In seiner Studie dagegen gehören zum täglichen Einerlei der Einkaufzentrums-Jugendlichen die Auseinandersetzungen mit dem Sicherheitspersonal. „Bis zum Abend ist es eigentlich so, dass wir von den Securitys hin und her gescheucht werden“, schildert etwa die 15-jährige Jeanette einen typischen Tag in der Shopping-Mall. Häufig werden Sitzmöglichkeiten abmontiert, um den Jugendlichen ihren Treffpunkt zu verleiden. Man fürchtet, dass die Jungs „alles vollspucken“ oder andere Kunden sich belästigt fühlen. Auch registriert Schützler „die Mutation des gewöhnlichen Ladendiebstahls zum Massenphänomen jugendlicher Freizeitgestaltung“.

Dennoch duldet das Center-Management für gewöhnlich die Clique, obwohl die Läden an ihrem Rumhängen wenig verdienen. Bisweilen arbeiten die Manager mit Schulen und Behörden zusammen, um andere Freizeitorte aufzubauen. Beim Deutschen Einzelhandelsverband wird als Ergebnis der Schützler-Studie darüber nachgedacht, ein bundeseinheitliches Modell für Sozialarbeit in den Centern anzuschieben. Wie Schützlers Befragung von Einkaufszentrums-Managern ergab, wollen diese die Jugendlichen und deren Familien nicht nur „als Kunden von morgen“ gewinnen. Die jungen Leute seien auch wertvoll für ein frisches und dynamisches Image der Einkaufsmeile. Dass die Kaufkraft der jungen Leute überdies nicht unbeträchtlich sein kann, zeigt die Äußerung des 17-jährigen Jörg: „Ich kaufe mir sehr viele Anzüge, in den letzten fünf Monaten habe ich mir sechs Anzüge geleistet. Der letzte kam zweieinhalbtausend Mark. Und ansonsten so 3.500 Mark.“

Trotz des freizügigen Abdrucks solch offenherziger Textpassagen bleibt Schützler hartnäckig der sozialarbeiterische Konsumkritiker in der „Verkaufsmaschine“ Einkaufszentrum. Als Mann aus der Praxis möchte er der Jugend gerne den „Kompass im Konsumdschungel“ reichen. Und das, obwohl die Mehrheit der von ihm befragten Cliquen-Jugendlichen seitenweise beschreibt, sie kosumiere außer Zigaretten und Bier so gut wie nichts. So leugnet Schützler die soziale und spaßige Funktion von Einkaufscentern, die er in seinem Buch beschreibt. Und er leugnet, dass es als Teenager schon immer prima war, unsinnig rumzustehen und zu gucken, was das andere Geschlecht so macht.

Stefan Schützler u.a.: „U.S.O. – Das Buch. Jugendliche Gruppen an und in innerstädtischen Einkaufszentren Berlins“. Hg. von Kietz für Kids e.V., Telefon: 92 09 41 63, Berlin 1999, 25 DM