Der Produzentenpapst sagt bye-bye!

Paradigmenwechsel in R & B und HipHop: Die Supergroup Lucy Pearl erntet, was D’Angelo oder Macy Gray gesät haben. Eine neue Generation betreibt die Abkehr von den Standards der Hitfabriken und die gleichzeitige Niederkunft des Autoren-Souls

von TOBIAS RAPP

Hübsch sehen sie aus, wie sie da auf dem Sofa hängen. Raphael Saadiq, Dawn Robinson und Ali Shaheed Muhammad sind Lucy Pearl und es muss wohl einen Grund geben, ein solches Foto von sich in Umlauf zu bringen. Nichts auf diesem Bild deutet darauf hin, dass sich hier drei Heroen der schwarzen Musik der Neunzigerjahre zusammengetan haben, um auf ihrem ebenso schlicht wie selbstbewusst „Lucy Pearl“ betitelten Debüt die Musik wieder mal auf den nächsten Level zu heben.

Der eine trägt eine Sonnenbrille, der andere Puma-Turnschuhe, und die dritte friert, obwohl sie ellbogenhoch Seidenhandschuhe trägt, allerdings nur einen. Dawn Robinson war Teil von En Vogue, einer der erfolgreichsten schwarzen Girlgroups der Neunziger, Raphael Saadiq hatte zusammen mit seinem Bruder und seinem Cousin die Band Tony!Toni!Toné!, und Ali Shaheed Muhammed war ein Drittel von A Tribe Called Quest, jener HipHop-Gruppe, deren Einfluss so weit reicht, dass sich heute jeder dritte Nachwuchsrapper anhört wie deren Q-Tip. Ein Gipfeltreffen also.

Sie sind nicht die einzigen: Ein ganzer Schwung von Alben ist in den letzten Monaten herausgekommen, Platten, die aus den unterschiedlichsten Perspektiven ganz ähnlich vorgehen. Ob Lucy Pearl, D’Angelo, Macy Gray oder Angie Stone, alle haben sie eins gemeinsam, sie bewegen sich weg von einer Produzenten- und hin zur Autorenästhetik.

Die Neunziger waren nicht nur in der (weißen) elektronischen Musik bestimmt von der Figur des Produzenten. Auch in der schwarzen Musik war derjenige, der hinter den Reglern saß, die bestimmende Figur. Jede der verschiedenen Schulen hatte ihren Mastermind mit seinen Sounds: Im HipHop ging das von Gang Starrs DJ Premier über den Wu-Tang-Clan und dessen RZA bis zu Puff Daddy und seinen Eighties-Pop-Revival-Sound. Im R & B waren es Teddy Riley und Babyface oder Timbaland und seine diversen Adepten. Es war der Produzent, der bestimmte, wie die Beats fielen.

Das hatte bestimmte Folgen: Die Musik war Popmusik, sie funktionierte vor allem über die Singles, die wiederum funktionierten vor allem über die Videoclips. Wenn ein Produzent einen Sound vorgab, versuchten alle anderen ähnlich zu klingen und ihre jeweiligen Gruppen mit dem entsprechenden Sounddesign auf den Markt zu schicken. Und diese Sounds basierten auf Elektronik in Form von Synthesizern oder Samplern.

Nun gab es die ganzen Neunziger über immer wieder Versuche, andere Modelle zu entwickeln, den Künstler, den Autor wieder in die schwarze Musik einzuführen. Und teilweise auch mit großem Erfolg, etwa die Alben von D’Angelo oder Maxwell, von Erykah Badu oder Lauryn Hill. Selbst das vielfach mit Platin ausgezeichnete Album von Wyclef Jean ist getragen von einem Autoren-Selbstverständnis – aber diese Platten standen ziemlich einzigartig da gegenüber den singlegestützten Popproduktionen.

Nun aber hat schwarze Popmusik schon immer so funktioniert. Unter den zahllosen Modellen, die sie anzubieten hat, war das Fabrikmäßige, der standardisierte Sound, schon immer stärker als das, was man so weiß und mittelständisch unter künstlerischem Ausdruck versteht: Von Doo-Wop, über Stax und Motown bis zu Disco und HipHop. Curtis Mayfield, Marvin Gaye und Prince waren immer Ausnahmen. Doch pünktlich zu dem Zeitpunkt, wo The Artist Formerly Known As Prince, TAFKAP, sich wieder Prince nennt, docken eine Reihe von Künstlern an diese Ausnahmen an.

„Lucy Pearl“ ist „collectively written, produced and performed“ von Saadiq, Dawn Robinson und Muhammad und hat schon fast etwas Low-Fi-Mäßiges, wenn man es nicht auf den Klang bezieht, sondern auf die Attitüde, sich mit Gitarre, Bass und Drumcomputer hinzusetzen und Dreieinhalb-Minuten-Songs aus dem Ärmel zu schütteln. Das ist eine Platte, die sich tatsächlich so anhört, wie die dazugehörige Legende geht, dass sich die drei nämlich einfach zusammentaten, weil ihnen nichts Besseres einfiel. Das war im Sommer 1999. Tony!Toni!Toné! hatten sich aufgelöst genau wie A Tribe Called Quest, und Dawn Robinson hatte bei En Vogue gekündigt. Man traf sich und spazierte ins Studio.

Nun singen Lucy Pearl Lieder über die Schwiegermutter, die nervt, nicht weil sie böse wäre, sondern weil sie sich mit einem anfreunden möchte und ständig im Weg ist. Oder es heißt „Kissin’ you is not enough for me / I’m a big boy / and big boys have desires / makin’ love is what I wanna do“. Und wenn sie die Single-Auskoppelung „Dance Tonight“ von einer Marschkapelle durch die Mangel drehen lassen, hat das so etwas souverän Verspieltes, dass man vor lauter Funkeln die Augen schließen möchte.

Diese Leichtigkeit macht auch den Unterschied zu D’Angelo aus. Der legte seiner Platte „Voodoo“ ein Manifest bei und inszenierte sich tatsächlich als Bruch, als jemand, der jetzt den echten Scheiß zurückbringen will, und der seine Platte als einen Startschuss zu einer Art „Image ist nichts, Musik ist alles“-Kampagne versteht, sich nackt in seinem Videoclip filmen lässt und auch sonst alles tat, um die Wichtigkeit und den Ernst seines Unterfangens zu betonen. Lucy Pearl aber wollen vor allem Spaß. Die ganze Platte ist getragen von spielerischem Amüsement. Die Strenge, die bei D’Angelo aus jedem Riff tönt, das ganze „Wir haben uns zwei Jahre lang eingeschlossen, damit wir so klingen“, kontern Lucy Pearl mit einem amüsierten „Wir haben nur ein paar Wochen gebraucht“. Wo D’Angelo recht ernsthaft und herausfordernd von seinem Albumcover blickt, hängen die drei Lucy Pearls eben einfach entspannt auf ihrem Sofa.

Wollte man das in historische Vorbilder übersetzen und D’Angelo in der Tradition von Marvin Gaye oder Curtis Mayfield sehen, dann wären Lucy Pearl wohl Sly & the Family Stone. Ein Gruppensubjekt, das sich vor allem von der Freude tragen lässt. Und trotz allem Spaß geht es auch um eine neue musikalische Ernsthaftigkeit. Der Bezug auf die Vergangenheit funktioniert nicht über das Zitat oder Sample, sondern eher über den Nachbau – nicht zuletzt auch deshalb, weil die hochgradige Arbeitsteilung, die dem Produzentenprinzip zu Grunde liegt, ersetzt ist durch ein offensives Selbermachen. Soul im Eigenbau. Selbst schreiben, selbst singen, selbst spielen, selbst produzieren.

Ein Singer-Songwriter-Prinzip also, das besonders bei Angie Stone und Macy Gray in den Vordergrund tritt. Erstere hat als Teenager schon eine HipHop-Gruppe gehabt, für Lenny Kravitz hat sie Saxophon gespielt und zusammen mit D’Angelo Songs geschrieben. Letztere hat eine Stimme wie eine Mischung aus Billie Holiday und Aretha Franklin. Ganz Singer-Songwriter-mäßig haben sie fast alles selbst gemacht und kreisen in ihren Stücken auch um verwandte Themen: „This is my life story“, heißt es bei Angie Stone, „On How Life Is“ bei Macy Gray.

Paradigmenwechsel fallen nicht vom Himmel. Sie brauchen soziale Zusammenhänge und einen Begriff, auf den sich alle einigen können und den auch der Rest der Welt sofort versteht, zuordnen kann und mit eben jenem Zusammenhang in Verbindung bringt. Abhängen tun sie schon zusammen: Raphael Saadiq hat auf D’Angelos „Voodoo“ mitgemischt, Ali Shaheed Muhammed hatte seine Finger an D’Angelo’s Vorgängeralbum „Brown Sugar“ und hat Stücke für Angie Stone produziert. Die wiederum ist die Exfreundin von D’Angelo und hat diverse Stücke mit ihm aufgenommen, ?uestlove, der Drummer von den Roots, spielt nicht nur auf „Voodoo“, sondern auch auf „Baduizm“ von Erykah Badu und auf dem neuen Album des Rappers Common. Der wiederum ist mit Mos Def befreundet, der mit Q-Tip abhängt, der auf dem Lucy-Pearl-Album Gastrapper ist.

Mit dem gemeinsamen Begriff hapert es allerdings noch. Vielleicht gerade deswegen, weil begriffliche Schublade und Singer-/Songwritertum so etwas wie natürliche Feinde sind. „Just call it music“ würde man in solchen Fällen wahrscheinlich verkündet bekommen. Aber so etwas findet sich. R’R & B schlägt Raphael Saadiq in einem Interview vor: Real Rhythm & Blues.

Alternative könnte man es nennen, wäre der Begriff nicht vorbelastet und würde er nicht das universell Offene der Musik auf eine Marktnische reduzieren. Neo-Classic Soul war auch ein Vorschlag. Oder, wäre der Begriff nicht so europäisch, man könnte diese Musik wohl tatsächlich auch Autoren-Soul nennen.

Lucy Pearl: „Lucy Pearl“ (Pookie/ Virgin), Angie Stone: „Black Diamond“ (Arista/ BMG) D’Angelo live: 10.7. Hamburg