Linksdrehender Personenkult

Die Rolle des nachdenklichen Politikers beherrscht Gregor Gysi wie die des Opfers. Am Sonntag führt sie der Medienstar im Schauspielhaus auf  ■ Von Gaston Kirsche

Als das Schauspielhaus Anfang des Jahres Gregor Gysi für den 28. Mai im Rahmen einer „Redenreihe“ einlud, war Gysi der unbestrittene Star der PDS: „Erst PDS-Parteivorsitzender, ist er jetzt PDS-Fraktionschef im Bundestag“ hieß es in der Kurzvorstellung über ihn. Fast zehn Jahre ist es her, dass Gysi in Hamburg das erste Mal als Redner auftrat. Am 23. Juni 1990 sprach er im Hamburg-Haus Eimsbüttel über die Entwicklung der PDS. Eingeladen hatten ihn einige linke Organisationen. Ältere LeserInnen erinnern sich vielleicht noch an die DKP-ErneuerInnen, KB, SOST und Linke in der GAL. Die waren an Bundestagsmandaten der PDS interessiert. Wenige Wochen zuvor hatte die PDS bei den letzten Volkskammerwahlen in der DDR über 16% der Stimmen erhalten.

Nun hat das Schauspielhaus Gysi als einen von 10 RednerInnen eingeladen, „öffentlich nachzudenken“ über die Frage: „Alles Kunst? Wie arbeitet der Mensch im neuen Jahrtausend, und was tut er in der übrigen Zeit?“

Der Rahmen ist für Gysi wie geschaffen: In der einleitenden Erklärung des Schauspielhauses wird Karl Marx bemüht, ohne von Kapitalismus zu reden. Intellektuell strebsam wird der 3. Band des Kapital bemüht, um dessen Begrifflichkeiten sinnentleert zum Schönreden der gesellschaftlichen Zustände zu benutzen: „Mit Notwendigkeit meinte Marx an dieser Stelle die Notwendigkeit zur materiellen Reproduktion. Die hat aufgehört oder beginnt gerade aufzuhören.“ Wer arbeitet heutzutage schon noch für Geld, wo wir uns doch alle nur noch von morgens bis abends selbst verwirklichen? Das Schauspielhaus sinniert weiter: „Können wir uns eine Gesellschaft von Denkern, Forschern und Künstlern vorstellen, in der es hieße: jeder nach seinen Fähigkeiten und jedem nach seinen Bedürfnissen?“

Das Parlieren mit linkem Jargon, um die BRD schön zu reden, beherrscht Gysi. Am 9. April hielt er in Münster vor der PDS seine letzte große Parteitagsrede, wie er selbst sagte: „Ich habe mich entschieden nach elf Jahren politischer Arbeit in der ersten Reihe der PDS und auch der Gesellschaft bei der nächsten Wahl zum Fraktionsvorstand der Bundestagsfraktion ... nicht wieder zu kandidieren.“ Vielen Delegierten fiel bei diesen Worten alles aus dem Gesicht – unser Gregor, wir brauchen ihn doch!

Um Gysi wird in der PDS ein Personenkult veranstaltet, der sich vom grünen Kult um Joschka Fischer unterscheidet. Während sich die Grünen von der Protest- zur Staatspartei wandelten und noch Reste gewisser antiautoritärer Brauchtümer bei ihnen zu finden sind, tut sich die PDS mit der entgegengesetzten Entwicklung hin zum Protest schwer. Die ungebrochene Ehrfurcht der Mehrheit der PDS vor dem verdienten Genossen Gregor ist in dieser linken Partei wohl nur dadurch möglich, dass sie in der Tradition einer früheren Staatspartei steht. André Brie, 1998 Wahlkampfleiter der PDS, erklärte im April gegenüber der Berliner Wochenzeitung jungle world: „Ich glaube, dass Gysi nicht ersetzbar ist. Der Mann ist bei vielen Ostdeutschen einfach Kult, gerade auch bei Jugendlichen ... Er ist der einzige, der die Menschen – nicht zuletzt im Westen – erreichen kann.“

Brie will nichts davon wissen, dass die Grünen früher als Protestpartei gewählt wurden, völlig unabhängig davon, welchen Besenstil sie aufstellten. So dürfte kaum jemand die PDS wegen Gysi gewählt oder nicht gewählt haben. In Talkshows gegenüber CDU bis Grünen zu brillieren, mag der PDS über die Person des ewigen Talkers Gysi bei politisch weniger Interessierten Sympathie bringen. Für eine Protestwahl gegen den NATO-Krieg, Sozialabbau oder die Rechtsentwicklung der Grünen ist der TV-Unterhaltungswert von Gysi kaum ausschlaggebend. Als Anhänger der Marktwirtschaft glaubt Brie aber, was die marktbeherrschenden Medien sagen, und die wollen nun mal ihren Medienstar Gysi hypen. Und auch Brie selbst kann sich wichtiger vorkommen, wenn er der Illusion von unersetzbaren Führungsfiguren anhängt. Diese Manie sich selbst allein über den Marktwert in den Medien und bürgerlichen Institutionen zu definieren, verstellt den Blick für jede emanzipatorische Perspektive.

So erklärt sich auch die Begeisterung, mit der Gysi und Brie den Vorgaben der Springerpresse, besonders Bild, hinterher hecheln, wenn sie dort interviewt werden. Im April beklagte sich Gysi einmal mehr in der Bild: „Ich habe mir zuviel bieten lassen. Wir hätten einigen lautstarken Sprechern z.B. der Kommunistischen Plattform frühzeitig klarmachen müssen ... dass das Recht einer Minderheit nicht darin besteht, die Mehrheit zu tyrannisieren.“

Am 8. April musste der Vorstand der PDS seine erste Abstimmungsniederlage seit Bestehen der Partei hinnehmen. Mit Zweidrittelmehrheit stimmten die 350 Delegierten gegen einen Leitantrag des Vorstandes, der die antimilitaristische Grundposition der PDS aufgeweicht hätte: Die Einzelfallprüfung möglicher Kriegseinsätze, wenn diese vom UN-Sicherheitsrat beschlossen werden würden, sollte in die Befugnis von Vorstand und Bundestagsfraktion übergehen. Das abschreckende Beispiel der Grünen, deren Weg zur Kriegspartei mit einem Ja zur Einzelfallprüfung von so genannten friedenserhaltenden UN-Einsätzen begonnen hatte, stand dabei sicher vielen der Nein-SagerInnen vor Augen. Damit wurde dem „virtuellen Politbüro“ der PDS, wie Hermann Gremliza in der Mai-konkret Gysi, Bisky, Bartsch und Brie treffend nannte, ein Strich durch die Rechnung gemacht.

Gysi klagte in seiner Abtrittsrede auf dem Parteitag, mit diesem Beschluss würde er nicht ernst genommen, wenn er im Bundestag gegen einen Kriegseinsatz reden würde: „Nun hat Joseph Fischer immer die Chance zu sagen: Das sind doch alles nur Vorwände. Denn auch wenn es diese sieben Gründe nicht gäbe, müssten sie dagegen sein ... Das macht mich nicht besonders glaubwürdig.“

Beim Heischen nach Anerkennung durch die politische Elite ist es offensichtlich störend, wenn es eindeutige Beschlusslagen gibt, die ein Kokettieren mit dem Einsatz der Bundeswehr nicht zulassen. Da ist es nur folgerichtig, dass Gysi wehleidig wie ein grüner Realo über das „gewisse Misstrauen gegenüber Parteivorstand und Bundestagsfraktion“ lamentierte. Die Sehnsucht des Gregor Gysi nach Anerkennung im Bundestag trifft sich mit seiner Hoffnung auf das Ankommen der DDR-BürgerInnen in der BRD. Erstere sieht er allerdings nicht durch die Degradierung der DDR zu einer Zone für den Absatz von westdeutschen Produkten und arbeitslosen WestakademikerInnen benachteiligt. Vor allem ärgert ihn, dass die DDR-BürgerInnen zuwenig aufgefordert werden, die kapitalistische Marktwirtschaft zu modernisieren, „obwohl sie so wichtig wären für die Weiterentwicklung der Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland.“

Auch in dieser Rede warb Gysi für die Bedeutung der PDS bei der Bewahrung des unsozialen Friedens. Er offenbarte dabei ein Verständnis von Gesellschaft, das so autoritär wie staatshörig ist. Gesellschaft ist ihm nur ein anderer Ausdruck für Nation und Staat. Wer da nicht mitspielen will, hat schon verloren: „Und ein Teil der Linken hat das auch immer akzeptiert, hat sich als außerhalb der Nation stehend empfunden und dies in gewisser Weise sogar kultiviert ... Ich will nur sagen, was eigentlich unsere Aufgabe war nach Herstellung der deutschen Einheit ... Es war der Abbau der Vorbehalte, der Abbau dieser Fremdheit ... Ja, auch die Linken sind Bestandteil dieser Gesellschaft.“

Der letzte Satz wäre banal, wenn Gysi mit seinem Plädoyer gegen Fremdheit nicht dafür werben würde, sich im Parlamentarismus und in der Marktwirtschaft heimisch zu fühlen. Das aufklärerische Moment, in der Distanz zu den herrschenden Institutionen und Werten Herrschaft und Ausbeutung als solche erkennnen zu können, ist somit ganz sicher nicht Gysis Ding.

Da Gysi von Klassenverhältnissen nicht reden will, schweigt er auch gleich von Rassismus und Patriarchat. Stattdessen redet er gerne darüber, die so genannte „innere Einheit Deutschlands so schnell wie möglich herzustellen“. Er schweigt von der antisemitischen und rassistischen Gewalt, die mit der nationalen Formierung Deutschlands einhergeht.

Gysis Problem, wie auch das der PDS, ist, dass sie dem nachholenden Rassismus auf dem Gebiet der Ex-DDR nichts Grundsätzliches entgegensetzen. Was taugt eine linke Partei, die in Gegenden, wo sie von über 20% gewählt wird, nicht Position dagegen bezieht, dass Dorfjugendliche, um endlich auch richtige Deutsche zu werden, alle irgendwie Anderen terrorisieren? Das interessierte Gysi bei seiner Rede nicht – denn Rassismus stand bei dem Parteitag eben nicht auf der Tagesordnung. Stattdessen ließ er seiner verblüffend eindimensionalen Vorstellung von Gesellschaft freien Lauf: „Wir brauchen die innere Einheit, damit die eigentlichen Widersprüche der Gesellschaft deutlich werden und nicht verdeckt werden durch die Ost-West-Nebenwidersprüche, die die Sicht auf den wirklichen Unterschied zwischen oben und unten, zwischen Reich und Arm versperren.“

Nicht nur, dass er die Gewaltförmigkeit der „inneren Einheit Deutschlands“ ignoriert: Etwas anderes als eine weichgespülte, realpolitisch mit Steuern und Sozialstaat lösbare „soziale Frage“ scheint es für Gysi nicht zu geben.

Bei seinem ersten Auftritt in Hamburg 1990 erklärte Gregor Gysi einem Publikum aus linken AktivistInnen, warum die PDS für die gewendeten DDR die Marktwirtschaft favorisiert hätte. Dabei tat Gysi so überzeugend unschuldig, wie dies nur wenige können. Seine ZuhörerInnen waren dankbar für die gekonnten Formulierungen ihres neuen Medienstars.

Bei seinem Auftritt morgen wird Gysi seinem Publikum erklären, wie wichtig es ist, dass die PDS in der BRD angekommen ist und akzeptiert werde. Er wird sicher nicht darüber reden, warum die Dresdner Bank die Redenreihe des Schauspielhauses finanziell unterstützt und linke Kritik so auf ihren schauspielerischen Unterhaltungswert reduziert wird. Gysi ist ein guter Schauspieler, der sowohl die Rolle des nachdenklichen Politikers wie die des wehleidigen Opfers linkssektierischer Machenschaften in der eigenen Partei mit einer gewissen Verve darstellt. Vielleicht ist es morgen sein letztes Hamburger Gastspiel in der Rolle des Politikers.

So, 28. Mai, 15 Uhr, Schauspielhaus

Gaston Kirscheist Mitglied der Hamburger gruppe demontage. Im Unrast-Verlag erschien 1999 in zweiter Auflage ihr Buch Postfor-distische Guerrilla – Vom Mythos nationaler Befreiung. Themen sind die veränderten Rahmenbedingungen im derzeitigen Kapitalismus und der politische Spielraum von nationalen Befreiungsbewegungen darin. Im Herbst 1999 wurde in der Roten Flora der von der gruppe demontage mitproduzierte Videofilm Kippt das Schanzenviertel! über Rassismus im MultiKulti-Stadtteil uraufgeführt.