Alter Schwede

■ Bei der letzten Schauspielpremiere der Saison am Bremer Theater geht es deftig zu: Barbara Bilabel inszeniert die Uraufführung von René Polleschs Stars- und Sternchen-Soap „Harakiri einer Bauchrednertagung“

Neuerdings wird so viel vom postrealen Zeitalter geredet. Ich dagegen finde unser Zeitalter eher montreal. Oder moncherie. Aber das nur gerade noch so eben. Kein Mensch blickt da heute noch durch, so schnell geht das mit den Zeitaltern. Und da hat, finde ich, moncherie gegenüber montreal und postreal wenigstens den Vorteil der Piemont-Kirsche.

Früher hat ein Kumpel immer „Alter“ gesagt, wenn ich solch einen Stuss erzählt habe, und später kam dann noch der Schwede hinzu. „Alter Schwede“ hat er dann gesagt und brauchte für diese beiden Worte so lange wie andere für einen ganzen Satz. „Aaaaaallllllllllllllllllttttttteeeerrrrr Schschschschsch-schSchwwwwwwweeeeeeeeeeee-ddddddeee“, sagte er, und ich bin dann mal eben Zigaretten holen gegangen. Oder Bier. Oder 'ne Pa-ckung Mon Cherie oder was immer Sie wollen.

In Hollywood, glaube ich, hätte so etwas nicht passieren können. Denn in Hollywood geht immer alles viel schneller, jedenfalls unter den Hollywood-Größen. Man nennt so etwas Screwball Comedys. Du weißt schon: Walter Matthau und Jack Lemmon, oder Jack Lemmon und Shirley McLaine. Jetzt haben wir hier am städtischen Schauspielhaus auch unsere Hollywood-Größen. Oder anders gesagt: Kurz nach Allens „Kugeln überm Broadway“ haben wir schon wieder Stars und Sternchen zum Begucken. Sie heißen Thomas und Susanne und sagen sich Sachen wie: „Vor ein paar Minuten konnte ich noch über Dich lachen, jetzt muss ich nur noch kotzen.“ „Das macht immerhin das gleiche Geräusch.“ Haha!

Hollywood-Größen sind nämlich echt gehässig. Vor allem dann, wenn sie gar keine echten Hollywood-Größen mehr sind. Dann nehmen sie noch mehr Drogen, und ihnen kommen noch mehr Boshaftigkeiten über die Lippen. Das ist zwar spätestens seit „Prêt-à-porter“ oder „Meine liebe Rabenmutter“ alles längst bekannt, persifliert oder dramatisiert. Aber René Pollesch, der bald als Hausautor ans Hamburger Schauspielhaus wechseln wird, hat es trotzdem noch mal aufgeschrieben. Kann ja nix schaden, finde ich.

Tut mir echt leid, Leser, dass das hier alles so durcheinander hagelt. Doch Polleschs Stück namens „Harakiri einer Bauchrednertagung“ ist so verwirrend, und es macht besoffen. Die Figuren kippen sich derart einen rein, dass du vor lauter Deli-rium auf der Bühne selbst ins Delirium fällst. Noch zwei Stunden länger, und du könntest dir den oder die Absacker hinterher sparen. Doch schon nach den zwei Stunden echter Spieldauer ist gerades Gehen nicht mehr möglich. Und hageln tut es auch. Im Stück.

Das ist, meine ich, nicht die schönste, aber die metaphorischste Szene im Stück: Regen oder besser Hagel. Susanne und Thomas kommen völlig durchnässt und hungrig an einem Supermarkt an. Sie wollen rein, können aber nicht. Als sie doch können, ist der ausgeraubt. O Alptraum, o Metapher, o Pollesch: Das ist mal ein Gleichnis auf die falschen Versprechungen der Konsumgesellschaft! Ganze Aufsätze können die Damen und Herren SoziologInnen und DramaturgInnen drüber schreiben. Aaaaaauuufffffssssääääättttzzzee, sach ich. Da steht dann: „... da gibt es diese Supermarktszene in René Polleschs ,Harakiri einer Bauchrednertagung', und die ...“ Echt clever, Herr Autor, so macht man von sich reden.

Ansonsten ist das Stück eine krude Soap-Opera. „Man muss das Ganze so unterwandern, dass es wieder analysierbar wird“, sagt der von der Hamburger Morgenpost schon als „Der neue Schauspielhaus-Soap-Spezialist“ angekündigte Pollesch. Im „Harakiri“ erleben drei Paare mit den selben Namen Susanne und Thomas und gespielt von den selben SchauspielerInnen (Cornelia Kempers und Rainer Frieb) ihre Delirien und Alpträume. Mal bitterböse, mal hysterisch, mal eiskalt giften sie sich an. Außerdem treten Figuren auf wie aus Huxleys „Schöner neuer Welt“: Statt Zentrifugalbrummball spielen diese Schönheiten (Regine Fritschi und – als glatzköpfiger Lederlui sowie als Monroe-Double – Thomas Ziesch) Rhönrad-Turnen, Synchrontrinken oder Kopfschach. Es fängt alles (n)irgendwo an und hört (n)irgendwo auf.

Regisseurin Barbara Bilabel hat das Ganze mit einem Trick in den Griff bekommen: Sie liest das in drei Episoden geteilte Stück als eine Art Abspann vor dem Selbstmord der Ex- oder Pseudodiva Susanne. Mit Hilfe von Filmzitaten und -Projektionen (unter anderem: „Casablanca“, „Full Metal Jacket“, „Apokalypse Now“, Riefenstahls „Fest der Schönheit“, „Psycho“ und – ganz neu – „Dauerlauf im Bremer Flughafen“) verbindet sie das virtuelle Film- mit dem „echten“ Bühnengeschehen. Und sie relativiert es zugleich: Wird Susanne bei ihrem Gang ins Bad nun gefilmt, oder ist die Szene eingespielt? Ist eingespielt. Aber das geht prima zusammen, obwohl das sauschwer ist. Hinzu kommen zu echten Theaterbildern gemachte Zitate mit kindlichen Monroe-Klonen und aus der Mini-Playback-Show, wofür ein junger Tom-Jones-Darsteller mit genauso gerührtem Applaus belohnt wird wie im Fernsehen.

Wir leben eben im postrealen Medienzeitalter, oder so, und da kriegstde alles und zugleich gar nix mit. Aber so viel Gedanken sollte man darauf nicht verschwenden. Denn in erster Linie ist diese Inszenierung ein großer kruder Ulk für Leute mit Vorliebe für den deftigen Humor. Und in dem spielen der Wiener Gast Rainer Frieb als halb schwuchteliger und halb fahriger Thomas und die großartige Cornelia Kempers als völlig verhuschte und gescheiterte Susanne ein so komisches wie schrilles Paar, wie es seit Jahren nicht mehr zu sehen war.

Wenn mir aber jetzt jemand kommt und behauptet, dass da ja unheimlich viel über das Medienzeitalter und das postreale Zeitalter und das Was-weiß-ich-Zeitalter zu erfahren sei, dann sach ich: „Alter Schwede“ und hör mit den beiden Worten nicht mal wieder auf, wenn du vom Zigaretten holen zurück bist. Christoph Köster

Aufführungen: 27. und 31. Mai sowie 8., 10., 17. und 23. Juni um 20 Uhr im Schauspielhaus