Organisation und Zufall

Die Spontan-Demos unter dem Motto Critical Mass schrumpften in Berlin zu Frozen Crowds

von PIA TEKATH

Jeden letzten Freitag im Monat um 17 Uhr trifft sich ein Pulk Fahrradfahrer am Brandenburger Tor, um mit der nötigen Coolness dort entlangzuradeln, wo die Stadt verkehrstechnisch meist überquillt: Unter den Linden. Mit Fahrradsternfahrten oder organisiertem Ausflugsvergnügen hat diese Variante aber etwa so viel zu tun wie der Vatertagstandemtrip mit der Tour de France – die „Critical Mass“ will sich die Straße friedlich zurückerobern.

Was im September 1997 nach US-amerikanischem Vorbild begann und mittlerweile überall auf der Welt Nachahmer gefunden hat, erreichte im Juni 1998 mit knapp 500 Teilnehmern seinen vorläufigen Höhepunkt. In San Francisco bewegen sich allmonatlich bis zu 5.000 Fahrradfahrern durch die Straßen an der Pazifikküste und damit auch immer am Rande der Illegalität. Im letzten Sommer des alten Jahrtausends wagten sich immerhin noch um die 200 mutige Radler auf die Straße, wohlgemerkt zwischen den Autoverkehr und nicht nur auf die Radwege. Und dieser Tage finden sich auf der Internetseite der rührigen Fahrradfahrer neben einem gut frequentierten Diskussionsforum zum Erfahrungsaustausch nur noch ein paar nicht mehr ganz aktuelle Veranstaltungshinweise. Über die Wintermonate hinweg waren es durchschnittlich 15 Fahrradaktivisten, die sich am Brandenburger Tor trafen – wohl eher eine Frozen Crowd als eine Critical Mass, ein „organisierter Zufall“.

Dabei will die bewusst desorganisierte Veranstaltung nichts weiter sein, als eine friedliche Fahrt durch die Stadt, bei der Spaß, Verkehrsstau und Lebensqualität in den Vordergrund gerückt werden sollen. „Wir blockieren nicht den Verkehr, wir sind der Verkehr“, heißt der Slogan der Masse. So ist auf der Homepage, dem zentralen Organ der kleinen Berliner Critical-Mass-Bewegung, auch kein Sprecher oder Verantwortlicher zu finden. Doch einfach so mitten auf der Straße in die Pedale zu treten und damit den Autoverkehr zu stören, ist für die Ordnungshüter eine gut getarnte, aber nicht angemeldete Demonstration: Währen der größten Fahrradstaus vor zwei Jahren gab es mehrere Verhaftungen, inzwischen nimmt die Polizei nur noch Personalien auf.

Dieses Schicksal ereilte auch die Mathematikerin Monika Siegfanz, die während einer der letzten Touren an der Spitze des Trosses strampelte und deshalb von den Beamten für eine „Rädelsführerin“ gehalten wurde. „Die Leute, die vorne fahren, werden aufgeschrieben – als Anführer einer nicht angemeldeten Demonstration“, erklärt Frau Siegfanz. Trotzdem lässt sie sich die Laune nicht verderben und ist beim nächsten Mal wieder dabei. Dass Radfahren einfach Spaß mache und man auf dem Dahtesel bei weitem nicht so isoliert sitze wie im Auto, will Monika Siegfanz vermitteln. „Konkrete Forderungen werden auf anderen Ebenen gestellt.“ Wie erklärt sich die treue Mitfahrerin, dass immer weniger Gleichgesinnte, für jederman ablesbar an einer Grafik im Internet, am Brandenburger Tor eintrudeln, während beispielsweise die Teilnehmerzahlen der Blade Night alle Rekorde brechen? „Neben der schlechten Witterung im Winter glaube ich, dass der Name uns in Misskredit gebracht hat. Critical Mass klingt semimilitant“, sagt Siegfanz. „Viele glauben vielleicht, dass wir uns aggressiv verhalten.“

Klar, dass so mancher Autofahrer nicht besonders milde gestimmt ist, wenn ein Fahrradfahrer sein knappes Terrain verlässt und ihm auf der Kühlerhaube herumtanzt. Aber, so benennt zumindest der unbekannte Verfasser der Critical-Mass-Homepage die Vorzüge der Polizeipräsenz: „Dadurch halten sich die meisten Autofahrer zurück, und auf das Verhalten der Radler müssen wir selber achten.“ Die Demonstration, die keine ist, wird von den Mitfahrern als „friedliches Happening“ bezeichnet, das allen Beteiligten Spaß machen soll. Gelegentlich auftretende Verkehrsstaus sind dabei nicht nur umumgänglich, sondern vielleicht auch ein kleines bisschen erwünscht.

Die nächste „Critical Mass“ findet am letzten Freitag im Juni um 17 Uhr statt – nur für den Fall, dass jemand zufällig in der Nähe sein sollte. www.critical-mass.net