Kult auf zwei Rädern

Das „Moulton Standard“ aus den Sechzigerjahren hat beim Kritiker Reyner Benham Begeisterung ausgelöst und wurde zum Kultobjekt. Charakteristisch für das Velo sind die Federung und der stabile Gitterrahmen

von MICHAEL KASISKE

Die Person des Anstoßes heißt Reyner Banham und hat als Kritiker in den Sechzigerjahren Design und Pop-Art in England entscheidend befördert. Was hatte es auf sich, dass dieser distinguierte, einer aufgeklärten Maschinenästhetik zugeneigte Historiker über Fahrräder namens „Moulton“ außer sich geriet vor Begeisterung?

Als ich Freund Paul in Cambridge bat, nach einem „Moulton Standard“ Ausschau zu halten, und ihm Banhams Hymne vortrug, schüttelte er verständnislos den Kopf: „I am sorry, ich habe dieses Fahrrad gehasst.“ Das einfache Moulton war in den Sechzigerjahren hunderttausendfach produziert worden, und auch Paul war auf ihm zur Schule geradelt.

Das Erscheinungsbild: Zwei Räder mit Durchmessern von 40 cm, die durch einen gitterartigen Rahmen verbunden sind. Nicht nur in den Augen Pauls entsprach dieses Unisex-Bike gar nicht dem Image eines komfortablen Fahrrads. Gerade das hatte freilich Banham überzeugt: „Moultons Mini ist so einfach wie es radikal ist“, schrieb er 1960. „Eben weil es etwas bietet, was konventionelle Räder niemals konnten – federn. Die beiden kleinen Räder von Moulton werden gefedert in einem Rahmen, der hauptsächlich eine ovale Tube ist, und der Fahrer nimmt die klassische aufrechte Haltung ein, die für eine bessere Übersicht und einen effizienteren Nutzen der Beinmuskeln geeignet ist. Das ganze Ding macht direkt und offensichtlich Sinn beim Anblick, beim Fahren.“

Moulton entwickelte die Federung für den Mini

Davon konnte ich mich selbst in den vier Jahren überzeugen, die das „Moulton Standard“ dank Pauls Einsatz zu mir gehört. Zugegeben, es ist mehr Objekt in meiner Wohnung denn Gebrauchsgegenstand auf der Straße. Trotzdem bin ich nun ein „Moultoneer“. Denn Moulton ist nicht nur eine Fahrradmarke, Moulton ist Kult. Gleichgültig, ob die Webseiten von Moulton, die des deutschen Importeurs L & H Bicycles Hammel oder die vom The Moulton Bicycle Club, auf allen wird die fantastische Erfolgsstory des Dr. Alex Moulton berichtet.

Erwähnt sei, dass er neben Entwurf und Produktion der ersten Mini-Fahrräder auch erfolgreich Federungen für Fahrzeuge – wie etwa den legendären Morris Mini – und sogar für Flugzeuge entwickelte. Ins Pantheon der genialen Konstrukteure neben Bessemer und Diesel stellte Banham seinerzeit auch Dr. Moulton, was er jedoch widerrief, nachdem dieser seine Patente Mitte der Sechzigerjahre an Raleigh verkauft und sich aus der Produktion zurückgezogen hatte. Doch der „bicycle maniac“ in Alex Moulton setzte sich nicht zur Ruhe. Um die Fortbewegung durch das Fahrrad nachhaltig zu verbessern, experimentierte er weiter an Rahmenkonstruktionen und begann Ende der Siebzigerjahre – Raleigh hatte die Moulton-Serie inzwischen eingestellt – unter dem Label AM mit einer neuen Produktion.

Bei den gegenwärtig lieferbaren Versionen werden zwei Klassen unterschieden: Erstens die originalen AM-Räder aus Moultons eigener Fabrik in Batsford-on-Avon, und zweitens die in Lizenz hergestellten Räder. Beide zeichnen sich durch teilbare Rahmen aus, die aufgrund ihrer dreidimensionalen Gitterstruktur nicht nur ein ungleich stabileres Fahren als auf konventionellen Mini-Fahrrädern ermöglichen, sondern auch über eine um 2,5-mal höhere Beständigkeit gegen Verwindungen verfügen. Die Fahrräder sind mühelos zerlegbar, allerdings nicht zu falten und somit zur Mitnahme in öffentlichen Verkehrsmitteln als quasi kleines „Gepäckstück“ ungeeignet.

Der „Klassenunterschied“ liegt in der Qualität des Materials: Für AM-Fahrräder werden Reynoldsrohre verwendet, deren Wandstärken, entsprechend ihrer statischen Belastung, an den Verbindungspunkten dicker gehalten sind, wohingegen die Lizenz-Räder nur Rohre gleichmäßiger Stärke aufweisen und somit etwas schwerer sind. Das schlägt sich im Preis nieder: Das originale AM-Rad ist ab rund 5.100 Mark zu haben, die anderen kosten immerhin noch etwa 2.700 Mark. Das ist eine Hürde, die einer Zukunft des Letzteren als populäres Massenprodukt, wie es die Moultons in den Sechzigerjahren waren, unwahrscheinlich macht.

Das weiche Schaukeln erinnert an den Citroën DS

Beim alten „Moulton Standard“ wirkt die Federung beider Räder ausgleichend zur harten Hochdruckbereifung; das weiche Schaukeln lässt an das Fahrgefühl im zeitgenössischen Citroën DS denken. Heute sind die Federkonstruktionen ausgereift und sorgen, eingestellt auf das Körpergewicht des Fahrers, für ein komfortables Fahren.

Dem Maschinenästheten Banham – er starb 1988 – hätten die Weiterentwicklungen Moultons gefallen, und insofern bleiben seine enthusiastischen Schlussfolgerungen von damals gültig: „Über Fahrräder nachzudenken kann niemals wieder dasselbe sein, und es kann kein Unsinn mehr über die permanente und bestimmte Form verbreitet werden, weil gerade das Moulton zur Erneuerung fähig ist.“

Moulton Bicycles gibt es bei: Christoph Beck, Goethestraße 79, 10623 Berlin, Tel. (0 30) 31 80 60-10 Velophil, Alt Moabit 72, 10555 Berlin, Tel. (0 30) 39 90 21 16 Moulton im Internet: Alexander Moulton: www.alexmoulton.co.uk L & H Bicycles Hammel: www.moulton-fahrraeder.de The Moulton Bicycle Club: www.whooper.demon.co.uk/ moulton/moulton