Verspätete Ehrung

Die Bürgerrechtsbewegung Neues Forum erhält den Nationalpreis. Die „Mutigen der ersten Stunden“ haben den Untergang der DDR eingeläutet

Als es richtig losging, war alles schon vorbei. Zumindest für das Neue Forum. Gerade noch waren alle Hoffnungen auf die Bürgerrechtsbewegung gerichtet. Gerade noch hatten sich Hunderttausende mit ihrer Unterschrift für die Legalisierung des Neuen Forums stark gemacht. Gerade noch feierte die Bewegung einen Erfolg nach dem anderen. Doch die Krönung dieser Erfolge, die erste freie Wahl in der DDR, wurde für das Neue Forum zur Tragik: Die Wähler ignorierten die Mutigen der ersten Stunde. Das Neue Forum verschwand in der Bedeutungslosigkeit.

Spät, eigentlich viel zu spät, wurden gestern die 30 Männer und Frauen geehrt, die den Gründungsaufruf unterschrieben und damit das Ende der DDR einläuteten. Was heute als Alltäglichkeit anmutet, war damals couragiert und gefährlich. Der staatliche Repressionsapparat war durchaus noch in Takt. Folgerichtig hatten die Männer und Frauen, deren Namen heute vergessen sind, ständig mit Repressionen und Verfolgung zu leben.

„In unserem Land ist die Kommunikation zwischen Staat und Gesellschaft offensichtlich gestört.“ Diese Worte stehen nicht nur am Anfang des Gründungsaufrufs. Diese Worte waren auch Programm. Ziel des Forums war nie die Parteiarbeit. Das neue Forum wollte „nur“ die öffentliche Kontrolle der politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse durch mündige Bürger. Es schien im Herbst 1989 gar, als gäbe es ihn, den mündigen Bürger. Allerorten gründeten sich Neue Foren, wurde diskutiert, nachgedacht, Zukunft entworfen. Die Menschen mischten sich ein. Als es Winter wurde, wandelte sich der Ruf „Wir sind das Volk“ in „Wir sind ein Volk“.

Natürlich bekannte sich auch das Neue Forum zur Einheit der Deutschen Nation. Die Frage der Einheit beantwortet das Neue Forum so: „Die gegenwärtige Zweistaatlichkeit ist für uns aber die Chance eines eigenen Beitrages zur demokratischen Entwicklung in Deutschland.“ So viel Mündigkeit vertrug der mündige Ost-Bürger nicht. Und das wiederum vertrugen viele Erstunterzeichner nicht. Reinhard Schult geht heute zu keiner Wahl mehr, weil sie nichts ändern. Ingrid Köppe, vier Jahre Bundestagsmitglied, hat sich ins Private zurückgezogen. Sebastian Pflugbeil, Forums-Minister im Kabinett Modrow, ist in die Wissenschaft zurückgegangen. So setzt sich die Liste fort. Keiner der Aktivisten der ersten Stunde spielt politisch noch eine Rolle. Das verwundert nicht, lautet doch die wesentlichste Erkenntnis der Bürgerrechtler heute: Der Bürger ist einfach nicht so mündig wie für das Gesellschaftsbild des Neuen Forums nötig. NICK REIMER